C-299/14 - 12
Schriftliche Erklärungen der Republik Polen
Rechtssache C-299/14*
Schriftstück eingereicht von:
Republik Polen
Übliche Bezeichnung der Rechtssache:
Garcia-Nieto u. a.
Eingangsdatum:
1. Oktober 2014
* Verfahrenssprache: Deutsch.
DE
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-299/14
[Staatswappen der Republik Polen]
Warschau, 1. Oktober 2014
AN DEN PRÄSIDENTEN UND DIE MITGLIEDER
DES GERICHTSHOFS DER EUROPÄISCHEN UNION
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN
DER REPUBLIK POLEN
abgegeben gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs im
Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache
C-299/14
Garcia-Nieto u. a.
(nationales Gericht: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen –
Deutschland)
Bevollmächtigter der Republik Polen:
Bogusław Majczyna
Zustellungsanschrift:
Ministerstwo Spraw Zagranicznych
al. J. Ch. Szucha 23
00-580 Warszawa – POLEN [Or. 2]
Inhaltsverzeichnis
I. SACHVERHALT UND VORLAGEFRAGEN ......................... I – 3
II. STELLUNGNAHME DER REPUBLIK POLEN ................... I – 4
II.1. Frage 1 .............................................................................. I – 4
II.2. Frage 2 .............................................................................. I – 5
III. ENTSCHEIDUNGSVORSCHLAG ........................................ I – 8
[Or. 3]
2
GARCIA-NIETO U. A.
I. SACHVERHALT UND VORLAGEFRAGEN
1
Das Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union in
der Rechtssache C-299/14,
Garcia-Nieto u. a., wurde von einem deutschen
Gericht (
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen) in einem Verfahren über die
Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
(Zweites Buch des deutschen Sozialgesetzbuchs) eingereicht.
2
Wie sich aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens ergibt, liegt dem
Streit in der Rechtssache C-299/14 der folgende Sachverhalt zugrunde. Nachdem
die Klägerin zu 1, die spanische Staatsangehörige ist, über einen längeren
Zeitraum in Spanien gelebt hatte, zog sie mit ihrer Tochter, die ebenfalls
spanische Staatsangehörige ist, nach Deutschland. Dies geschah im April 2012.
Im Juni 2012 nahm die Klägerin eine Arbeit auf.
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Im Juni 2012 folgte der Partner der Klägerin (Kläger zu 2) dieser mit dem zweiten
Kind nach. Sie sind ebenfalls spanische Staatsangehörige. Der Kläger zu 2 hatte
zuvor in der spanischen Arbeitslosenversicherung Versicherungszeiten in einem
Umfang von mehr als 12 Monaten zurückgelegt.
4
Ab Juli 2012 bezogen die beiden klagenden Eltern Kindergeld für ihre Kinder.
Ende Juli 2012 beantragten alle vier (die Eltern und die Kinder) beim Beklagten
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beklagte
bewilligte allen Klägern diese Leistungen ab Oktober 2012. Er lehnte jedoch ihre
Gewährung an die Kläger zu 2 und zu 4 für die Monate August und September ab
und begründete dies damit, dass die Bedingung eines dreimonatigen Aufenthalts
in Deutschland (§ 7 Abs. [1] Satz 2 Nr. 1 SGB II) noch nicht erfüllt gewesen sei.
5
Die Kläger erhoben gegen diese Ablehnung Klage beim Sozialgericht
Gelsenkirchen, das der Klage stattgab. Dagegen hat der Beklagte Berufung beim
vorlegenden Gericht eingelegt (
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen).
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Vor diesem Hintergrund hat das Berufungsgericht beschlossen, sich mit den
folgenden Fragen an den Gerichtshof zu wenden:
[Or. 4]
1.
Gilt das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr.
883/2004 – mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 der
Verordnung Nr. 883/2004 – auch für die besonderen beitragsunabhängigen
Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr.
883/2004?
2. Falls Frage 1) bejaht wird: Sind – gegebenenfalls in welchem Umfang –
Einschränkungen des Gleichbehandlungsgebots des Art. 4 der Verordnung
Nr. 883/2004 durch Bestimmungen in nationalen Rechtsvorschriften in
Umsetzung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG möglich, nach
denen der Zugang zu diesen Leistungen ausnahmslos für die ersten drei
Monate des Aufenthalts nicht besteht, wenn Unionsbürger in der
3
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-299/14
Bundesrepublik Deutschland weder Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder
Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU
(FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt sind?
3. Falls Frage 1) verneint wird: Stehen andere primärrechtliche
Gleichbehandlungsgebote – insbesondere Art. 45 Abs. 2 AEUV in
Verbindung mit Art. 18 AEUV – einer nationalen Bestimmung entgegen, die
Unionsbürgern eine Sozialleistung in den ersten drei Monaten ihres
Aufenthalts ausnahmslos verweigert, die der Existenzsicherung dient und
gleichzeitig auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert, wenn diese
Unionsbürger zwar weder Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder
Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des FreizügG/EU
freizügigkeitsberechtigt sind, aber eine tatsächliche Verbindung zum
Aufnahmestaat und insbesondere zum Arbeitsmarkt des Aufnahmestaats
aufweisen können?
II. STELLUNGNAHME DER REPUBLIK POLEN
II.1. Frage 1
7
Bei der ersten Frage geht es im Kern um die Feststellung, ob das
Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/20041 auch für
die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gilt. Es ist zu erwarten, dass
der Gerichtshof über diese Frage
[Or. 5] in Kürze im Urteil in der Rechtssache
Dano (C-333/13) entscheiden wird2. In Erwartung dieses Urteils und unter
Berücksichtigung der herausragenden Bedeutung dieser Frage auch für das
vorliegende Verfahren wird die Republik Polen aber kurz die Argumente
darlegen, die nach ihrer Ansicht für die Erteilung einer bejahenden Antwort
sprechen.
8
Es ist anzumerken, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich
bestimmt, dass diese Verordnung „auch für die besonderen beitragsunabhängigen
Geldleistungen gemäß Artikel 70 [gilt]“. Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
bestimmt, dass, „[s]ofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, ...
Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten
aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen
dieses Staates [haben]“. Art. 70 Abs. 3 bestimmt wiederum, dass für die in Art. 70
genannten Leistungen, d. h. für die besonderen beitragsunabhängigen
Geldleistungen, nur Art. 7 und die anderen Kapitel des Titels III der Verordnung
Nr. 883/2004 nicht gelten.
1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1
[berichtigt und neu veröffentlicht in ABl. L 200 vom 7.6.2004, S. 1]).
2 Eine entsprechende Frage wurde von dem vorlegenden Gericht in der Rechtssache
Alimanovic
(C-67/14) gestellt.
4
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Aus Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 geht somit
hervor, dass für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen alle
Vorschriften der Titel II, IV, V und VI sowie alle Bestimmungen des Titels I mit
Ausnahme von Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 gelten. Art. 4 der Verordnung
Nr. 883/2004 befindet sich im Titel I, seine Anwendung wurde daher nicht kraft
Art. 70 Abs. 3 dieser Verordnung ausgeschlossen.
10 Zudem ist anzumerken, dass die Art. 4 und 70 der Verordnung Nr. 883/2004 den
Art. 3 und 10a der Verordnung Nr. 1408/713 entsprechen. Auch die
Erwägungsgründe der Verordnung Nr. 883/2004 verweisen an vielen Stellen auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 1408/714. Aus diesen
Gründen ist es angemessen, sich bei der Beantwortung der ersten Frage auf die
Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 10a der Verordnung Nr. 1408/71 zu
berufen. Indessen hat der Gerichtshof in der Rechtsprechung zu dieser
Bestimmung mehrmals betont, dass Einschränkungen der allgemeinen Grundsätze
der Koordinierung der Systeme
[Or. 6] der sozialen Sicherheit in Bezug auf die
besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen eng auszulegen sind5.
11 Infolgedessen steht nach Ansicht der Republik Polen außer Zweifel, dass das
Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 auch für die
besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gilt. Dem ist hinzuzufügen, dass
ein ähnlicher Standpunkt von Generalanwalt M. Wathelet in den Schlussanträgen
in der Rechtssache
Dano (C-333/13, EU:C:2014:341, Nrn. 75 bis 86) vertreten
wird.
II.2. Frage 2
12 Bei der zweiten Frage geht es im Kern um die Feststellung, ob das in Art. 4 der
Verordnung Nr. 883/2004 niedergelegte Gebot der Gleichbehandlung ohne
Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit durch die Anwendung von nationalen
Bestimmungen, die Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG6 umsetzen,
eingeschränkt werden kann.
13 Das vorlegende Gericht scheint anzunehmen, dass die Anwendung der nationalen
Vorschriften, die die Richtlinie 2004/38/EG umsetzen, zur Verweigerung der
3 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der
sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern (ABl. L 149 vom 5.7.1971, S. 2).
4 Vgl. z. B. die Erwägungsgründe 21, 24, 34 und 37 der Verordnung Nr. 883/2004.
5 Vgl. Urteile
Jauch (C-215/99, EU:C:2001:139, Rn. 21),
Naranjo (C-265/05, EU:C:2007:26,
Rn. 29) sowie
Kersbergen-Lap und Dams-Schipper (C-154/05, EU:C:2006:449, Rn. 25).
6 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das
Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr.
1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG,
73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl.
L 158 vom 30.4.2004, S. 77 [berichtigt und neu veröffentlicht in ABl. L 229 vom 29.6.2004,
S. 35]).
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Leistung führen müsse. Die Verweigerung der Leistung in den ersten drei
Monaten des Aufenthalts würde aber eine abweichende Behandlung von
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten bedeuten und könnte damit einen
Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf die
Staatsangehörigkeit darstellen, das sich in Bezug auf die Leistungen, die den
Streitgegenstand bilden, ausdrücklich aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
ergibt. Unter diesen Umständen schlägt das vorlegende Gericht eine Lösung vor,
nach der das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
trotzdem gemäß Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG eingeschränkt werden
kann und infolgedessen eine abweichende Behandlung von Staatsangehörigen
anderer Mitgliedstaaten zulässig ist.
14 Diese Schlussfolgerung scheint auf der folgenden Annahme zu beruhen. Nach
dem Urteil
Brey (C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 58 bis 62) können in bestimmten
Fällen besondere beitragsunabhängige Geldleistungen zugleich
Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG sein. Die Feststellung,
dass die betreffende Leistung
[Or. 7] dem Grunde nach eine Sozialhilfeleistung
im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG ist, begründet die Anwendung der in dieser
Richtlinie aufgestellten Grundsätze; und da die Richtlinie in Art. 24 Abs. 2
ausdrücklich Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot vorsieht, müssen diese –
unabhängig von den Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004 – auch für eine
besondere beitragsunabhängige Geldleistung gelten. Daraus kann der folgende
Schluss gezogen werden: Wenn eine bestimmte Leistung als Sozialhilfeleistung
angesehen werden kann, dann muss ihre Gewährung durch die Richtlinie
2004/38/EG geregelt werden, und die Anwendung der Vorschriften der
Verordnung Nr. 883/2004 kann dann höchstens im Einklang mit den
Bestimmungen dieser Richtlinie erfolgen.
15 Nach Ansicht der Republik Polen wäre diese Betrachtungsweise indessen
unzutreffend. Es ist zu betonen, dass eine besondere beitragsunabhängige
Geldleistung auch dann, wenn sie als Sozialhilfeleistung im Sinne der Richtlinie
2004/38/EG eingestuft werden kann, deswegen nicht ihren Status als besondere
beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 verliert
und nicht vom Anwendungsbereich ihrer Vorschriften ausgeschlossen wird. Im
Gegenteil, Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt ausdrücklich,
dass für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen die Vorschriften
dieser Verordnung – vorbehaltlich der Einschränkungen in Art. 70 Abs. 3 –
gelten. Unabhängig von der eventuell möglichen Anwendung von Ausnahmen
vom Gebot der Gleichbehandlung ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit
unterliegen die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen somit allen in
der Verordnung Nr. 883/2004 genannten Grundsätzen in dem dort bestimmten
Umfang.
16 Wie bereits in den Erwägungen zur ersten Frage dargelegt wurde, finden gemäß
Art. 70 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 auf die besonderen
beitragsunabhängigen Geldleistungen alle Vorschriften des Titels I dieser
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Verordnung mit Ausnahme von Art. 7 Anwendung. Nach Ansicht der Republik
Polen bedeutet dies, dass für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen
auch Art. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 gilt, der die Pflicht zur
Berücksichtigung von nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats
zurückgelegten Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten einer
selbständigen Erwerbstätigkeit und Wohnzeiten betrifft. Daher hätte das
vorlegende Gericht im Hinblick auf die Erfüllung der Bedingung eines mindestens
dreimonatigen Aufenthalts in Deutschland, die sich aus den innerstaatlichen
Vorschriften ergibt, unter Anwendung der in Art. 6 der Verordnung Nr. 883/2004
niedergelegten Rechtsnorm die Wohnzeiten der Kläger in dem anderen
Mitgliedstaat berücksichtigen müssen.
[Or. 8]
17 In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 der Verordnung Nr.
883/2004 mit Art. 10a Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 übereinstimmt. Daher
ist es nach Ansicht der Republik Polen angebracht, bei der Beantwortung der
zweiten Frage auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 10a Abs. 2 der
Verordnung Nr. 1408/71 zurückzugreifen. Im Urteil
Swaddling (C-90/97,
EU:C:1999:96, Rn. 30 und Tenor) hat der Gerichtshof deutlich darauf
hingewiesen, dass Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die den Erhalt einer
besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung von der Erfüllung der Bedingung
eines Mindestaufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat abhängig machen,
gegen Art. 10a der Verordnung Nr. 1408/71 verstoßen.
18 Indem ein Mitgliedstaat für den Erhalt einer bestimmten Leistung die Bedingung
aufstellt, dass der Betroffene in seinem Gebiet über einen bestimmten Zeitraum
wohnt, verfolgt er das Ziel, den Zugang zu Leistungen nur Personen zu eröffnen,
die in der Lage sind, eine Verbindung zu diesem Staat nachzuweisen. Das
Erfordernis eines Wohnens im Gebiet des betreffenden Staates ist geht weiter als
das Erfordernis eines Aufenthalts in diesem. An dieser Stelle ist anzumerken, dass
gemäß Art. 1 Buchst. j der Verordnung Nr. 883/2004 der „Wohnort“ als der „Ort
des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person“ definiert wird. Das bedeutet, dass der
Aufenthalt eines der konstitutiven Merkmale des Wohnens ist, wobei diese
Vorschrift für ein Wohnen in einem Staat keine Mindestaufenthaltsdauer in dem
betreffenden Staat vorsieht. Aus dem Urteil
Bergemann (C-236/87,
EU:C:1988:443, Rn. 3 und 4 sowie 19 bis 21) geht hervor, dass die Verlegung des
Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat sofort nach dem Umzug in diesen Staat
erfolgen kann. Ein Mitgliedstaat, der für die Gewährung von besonderen
beitragsunabhängigen Geldleistungen die Erfüllung der Bedingung des Wohnens
in seinem Gebiet verlangt, ist demnach verpflichtet, die Zeiträume des Wohnens
in einem anderen Mitgliedstaat zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung dieser
Erwägung ist festzustellen, dass der Mitgliedstaat erst recht die Bedingung des
Aufenthalts in seinem Gebiet als erfüllt ansehen muss, wenn die betreffende
Person vorher in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hat.
19 Zudem weist das vorlegende Gericht in dem Vorabentscheidungsersuchen selbst
darauf hin, dass in der vorliegenden Rechtssache die soziale Integration der
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SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-299/14
Kläger im Aufnahmestaat unmittelbar nach der Ankunft aus dem Staat, dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzen und in dem sie über einen längeren Zeitraum
wohnten, erfolgte. Das bedeutet, dass die Kläger schon während der ersten drei
Monate des Aufenthalts die Bedingung des Wohnens, von der in Art. 70 Abs. 4
der Verordnung Nr. 883/2004 die Rede ist, erfüllt haben. Es ist anzumerken, dass
der Gerichtshof in dem oben angeführten Urteil in der Rechtssache
[Or. 9]
Bergemann (EU:C:1988:443, Rn. 21) deutlich darauf hingewiesen hat, dass der
Nachzug zu Familienmitgliedern, die schon in dem entsprechenden Staat wohnen,
für die Integration der betreffenden Person in diesem Staat spricht. Im Übrigen
wurde die in Rede stehende Leistung den Klägern sofort für den Zeitraum ab dem
vierten Monat ihres Aufenthalts gewährt. Es kann angenommen werden, dass die
die Leistung gewährende Stelle keine Zweifel daran hegte, dass die Kläger in
Deutschland wohnen, andernfalls hätte sie die Gewährung dieser Leistung
verweigert. Es scheint also, dass die Kläger ununterbrochen in Mitgliedstaaten
gewohnt haben (zunächst in Spanien, dann in Deutschland). Der Wechsel des
Wohnorts innerhalb der Union darf nach den Grundsätzen der Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit keine negativen Folgen nach sich ziehen, wenn
die einschlägige Rechtsordnung bestimmte Folgen an den Aufenthalt im eigenen
Gebiet während der entsprechenden Zeiträume knüpft.
20 Die Berücksichtigung der früheren Wohndauer der Kläger in Spanien hätte es
ermöglicht, den Klägern die Leistung vom Zeitpunkt der Antragstellung an, auch
für den Zeitraum der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland, zu
gewähren.
21 Auch wenn man eventuell davon ausgeht, dass eine besondere
beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 eine
Sozialhilfeleistung im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG ist, gelten nach Ansicht
der Republik Polen im Licht der obigen Erwägungen für die besonderen
beitragsunabhängigen Geldleistungen in vollem Umfang die Vorschriften der
Verordnung Nr. 883/2004 – darunter der in Art. 6 aufgestellte Grundsatz der
Zusammenrechnung von Wohnzeiten –, vorbehaltlich der Einschränkungen, die in
Art. 70 Abs. 3 dieser Verordnung genannt werden.
22 Da die Republik Polen vorschlägt, die zweite Frage zu bejahen, wird sie keine
Antwort auf die dritte Frage vorschlagen.
III. ENTSCHEIDUNGSVORSCHLAG
23 In Anknüpfung an die obige Argumentation schlägt die Republik Polen dem
Gerichtshof der Europäischen Union vor, die erste und zweite Frage des
vorlegenden Gerichts wie folgt zu beantworten:
1) Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
gilt auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im
Sinne von Art. 70 dieser Verordnung.
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GARCIA-NIETO U. A.
2) Sofern man eventuell davon ausgeht, dass eine besondere
beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne der Verordnung Nr.
883/2004 eine Sozialhilfeleistung im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG ist,
gelten für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen in
vollem Umfang die Vorschriften der Verordnung Nr. 883/2004 –
darunter der in Art. 6 aufgestellte Grundsatz der Zusammenrechnung
von Wohnzeiten –, vorbehaltlich der Einschränkungen, die in Art. 70
Abs. 3 dieser Verordnung genannt werden.
Bogusław Majczyna
Bevollmächtigter der Republik Polen
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