Ref. Ares(2014)2779179 - 25/08/2014
Date de réception
:
25/08/2014
Übersetzung
C-62/14 - 34
Schriftliche Erklärungen
Rechtssache C-62/14*
Schriftstück eingereicht von:
Republik Polen
Übliche Bezeichnung der Rechtssache:
Gauweiler u. a.
Eingangsdatum:
18. Juni 2014
________________________________
* Verfahrenssprache: Deutsch.
DE
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
[Staatswappen der Republik Polen]
Warschau, 18. Juni 2014
AN DEN PRÄSIDENTEN UND DIE MITGLIEDER
DES GERICHTSHOFS DER EUROPÄISCHEN UNION
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN
DER REPUBLIK POLEN
abgegeben gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union
im Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache
C-62/14
Gauweiler u. a.
(nationales Gericht: Bundesverfassungsgericht – Deutschland)
Bevollmächtigter der Republik Polen:
Bogusław Majczyna
Zustellungsanschrift:
Ministerstwo Spraw Zagranicznych
al. J. Ch. Szucha 23
00-580 Warszawa – POLEN
[Or. 2]
Inhaltsverzeichnis
I. SACHVERHALT UND VORLAGEFRAGEN ................................................... 3
II. STELLUNGNAHME DER REPUBLIK POLEN .............................................. 6
II.1. Fragen 1a und 1b ....................................................................................... 6
II.1.1. Währungspolitik der Europäischen Union ......................................... 6
II.1.2. Ziel des OMT-Beschlusses ................................................................... 7
II.1.3. Angemessenheit und Erforderlichkeit ................................................ 9
II.1.4. Selektivität .......................................................................................... 12
2
GAUWEILER U. A.
II.1.5. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die
Marktmechanismen ...................................................................................... 14
II.1.6. Verknüpfung mit den ESM- und EFSF-Programmen .................... 15
II.1.7. Finanzielles Risiko ............................................................................. 16
II.1.8. Fehlendes Risiko der Umgehung der Bedingungen der
EMS- und EFSF-Programme ...................................................................... 17
II.2. Fragen 1b und 2b ..................................................................................... 18
II.2.1. Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung der
Mitgliedstaaten .............................................................................................. 18
II.2.2. Handeln im Rahmen des Mandats der EZB als
Bedingung für die Vereinbarkeit des OMT-Beschlusses mit
Art. 123 AEUV .............................................................................................. 20
II.2.3. Unbegrenztheit des OMT-Beschlusses als
Wirksamkeitsvoraussetzung der Intervention der EZB .............................. 21
III. ENTSCHEIDUNGSVORSCHLAG ................................................................ 22
[Or. 3]
I. SACHVERHALT UND VORLAGEFRAGEN
1
Das Vorabentscheidungsersuchen des deutschen Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG) in der Rechtssache C-62/14,
Gauweiler u. a., betrifft die Gültigkeit des
Beschlusses des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 6. September
2012 über den endgültigen und unbegrenzten Erwerb von Anleihen einiger
Staaten des Euroraums (
Technical features of Outright Monetary Transactions)
(OMT-Beschluss).
2
Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in dieser Rechtssache wurde
durch eine Verfassungsbeschwerde in Gang gesetzt, die von deutschen
Staatsangehörigen gegen die Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der
Umsetzung des OMT-Beschlusses und gegen die Untätigkeit der deutschen
Bundesregierung und des Deutschen Bundestags gegenüber diesem Beschluss
(Unterlassen der Erhebung einer Nichtigkeitsklage beim Gerichtshof der
Europäischen Union) erhoben wurde.
3
Nach Auffassung der Beschwerdeführer ist der OMT-Beschluss nicht vom
Mandat der EZB gemäß den Art. 119 und 127 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV) sowie den Art. 17 bis 24 des Protokolls über die
Satzung des ESZB und der EZB gedeckt, da die darin angekündigte Intervention
die Zuständigkeit der EZB überschreite. Nach Ansicht der Beschwerdeführer kann
der in dem OMT-Beschluss angekündigte endgültige Erwerb von Staatsanleihen
nicht der Währungspolitik zugeordnet werden, er sei vielmehr ein Element der
Wirtschaftspolitik, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Nach
Auffassung der Beschwerdeführer verstößt der OMT-Beschluss zudem gegen das
3
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
in Art. 123 AEUV verankerte Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung der
Mitgliedstaaten durch die Zentralbanken.
4
Die EZB vertritt den Standpunkt, der OMT-Beschluss sei von ihrem Mandat
gedeckt und verstoße auch nicht gegen das Verbot monetärer
Haushaltsfinanzierung. Nach Ansicht der EZB wird ihr währungspolitischer Kurs
in den Staaten des Euroraums nicht mehr angemessen umgesetzt, da der
währungspolitische Transmissionsmechanismus gestört sei, insbesondere sei das
Verhältnis zwischen den Leitzinsen der Zentralbank und dem Zinsniveau auf dem
Markt beeinträchtigt. Ziel des OMT-Beschlusses sei die Neutralisierung
unbegründeter Unterschiede der Zinssätze in den einzelnen Mitgliedstaaten, dies
sei von der Währungspolitik umfasst und überschreite daher nicht die
Zuständigkeiten der EZB.
[Or. 4]
5
Das Bundesverfassungsgericht hat angenommen, dass die Entscheidung über die
Beschwerde von der Auslegung des Rechts der Europäischen Union abhänge, und
hat dem Gerichtshof die folgenden Fragen vorgelegt:
1. a)
Ist der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6.
September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions mit
Art. 119 und Art. 127 Abs. 1 und 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union sowie mit Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank
unvereinbar, weil er über das in den genannten Vorschriften geregelte Mandat
der Europäischen Zentralbank zur Währungspolitik hinausgeht und in die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreift?
Ergibt sich eine Überschreitung des Mandates der Europäischen Zentralbank
insbesondere daraus, dass der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank
vom 6. September 2012
aa) an wirtschaftspolitische Hilfsprogramme der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität oder des Europäischen
Stabilitätsmechanismus anknüpft (Konditionalität)?
bb) den Ankauf von Staatsanleihen nur einzelner Mitgliedstaaten vorsieht
(Selektivität)?
cc) den Ankauf von Staatsanleihen der Programmländer zusätzlich zu
Hilfsprogrammen der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität oder des
Europäischen Stabilitätsmechanismus vorsieht (Parallelität)?
dd) Begrenzungen und Bedingungen der Hilfsprogramme der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität oder des Europäischen
Stabilitätsmechanismus unterlaufen könnte (Umgehung)?
4
GAUWEILER U. A.
b) Ist der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September
2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions mit dem in
Art. 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
verankerten Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung unvereinbar?
Steht der Vereinbarkeit mit Art. 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union insbesondere entgegen, dass der Beschluss des Rates der
Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012
aa) keine quantitative Begrenzung des Ankaufs von Staatsanleihen vorsieht
(Volumen)?
bb) keinen zeitlichen Abstand zwischen der Emission von Staatsanleihen am
Primärmarkt und ihrem Ankauf durch das Europäische System der
Zentralbanken am Sekundärmarkt vorsieht (Marktpreisbildung)?
cc) es zulässt, dass sämtliche erworbenen Staatsanleihen bis zur Fälligkeit
gehalten werden (Eingriff in die Marktlogik)?
dd) keine spezifischen Anforderungen an die Bonität der zu erwerbenden
Staatsanleihen enthält (Ausfallrisiko)? [Or. 5]
ee) eine Gleichbehandlung des Europäischen Systems der Zentralbanken mit
privaten und anderen Inhabern von Staatsanleihen vorsieht
(Schuldenschnitt)?
2. Hilfsweise für den Fall, dass der Gerichtshof den Beschluss des Rates der
Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über Technical features of
Outright Monetary Transactions als Handlung eines Organs der Europäischen
Union nicht als tauglichen Gegenstand eines Ersuchens nach Art. 267 Abs. 1
Buchst. b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ansehen
sollte:
a) Sind Art. 119 und Art. 127 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union sowie Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank so
auszulegen, dass sie es dem Eurosystem – alternativ oder kumulativ – gestatten,
aa) den Ankauf von Staatsanleihen von der Existenz und Einhaltung
wirtschaftspolitischer Hilfsprogramme der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität oder des Europäischen
Stabilitätsmechanismus abhängig zu machen (Konditionalität)?
bb) Staatsanleihen nur einzelner Mitgliedstaaten anzukaufen (Selektivität)?
5
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
cc) Staatsanleihen von Programmländern zusätzlich zu Hilfsprogrammen der
Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität oder des Europäischen
Stabilitätsmechanismus anzukaufen (Parallelität)?
dd) Begrenzungen und Bedingungen der Hilfsprogramme der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität oder des Europäischen
Stabilitätsmechanismus zu unterlaufen (Umgehung)?
b) Ist Art. 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
mit Blick auf das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung so auszulegen, dass es
dem Eurosystem – alternativ oder kumulativ – erlaubt ist,
aa) Staatsanleihen ohne quantitative Begrenzung anzukaufen (Volumen)?
bb) Staatsanleihen ohne zeitlichen Mindestabstand zu ihrer Emission von
Staatsanleihen am Primärmarkt anzukaufen (Marktpreisbildung)?
cc) sämtliche erworbenen Staatsanleihen bis zur Fälligkeit zu halten (Eingriff in
die Marktlogik)?
dd) Staatsanleihen ohne Mindestanforderung an die Bonität zu erwerben
(Ausfallrisiko)?
ee) eine Gleichbehandlung des Europäischen Systems der Zentralbanken mit
privaten und anderen Inhabern von Staatsanleihen hinzunehmen
(Schuldenschnitt)? [Or. 6]
ff) durch die Äußerung von Kaufabsichten oder auf andere Weise in zeitlichem
Zusammenhang mit der Emission von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten
des Euro-Währungsgebietes Einfluss auf die Preisbildung zu nehmen
(Ermutigung zum Ersterwerb)?
II. STELLUNGNAHME DER REPUBLIK POLEN
II.1. Fragen 1a und 1b
II.1.1. Währungspolitik der Europäischen Union
6
Nach Auffassung der Republik Polen ist der OMT-Beschluss vom Mandat der
EZB gedeckt; die EZB hat bei dem Erlass dieses Beschlusses auch nicht ihre
Zuständigkeiten überschritten, die sich aus dem Vertrag und der Satzung ergeben.
7
Gemäß Art. 282 Abs. 1 AEUV bilden die EZB und die nationalen Zentralbanken
der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, das Eurosystem und betreiben
die Währungspolitik der Union. Der AEUV enthält allerdings keine Definition der
Währungspolitik, in seinen Bestimmungen nimmt er eher auf ihre Ziele als auf
ihre Instrumente Bezug (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 27. November 2012,
6
GAUWEILER U. A.
Pringle, C-370/12, Rn. 53). Insbesondere beschränkt der AEUV die Instrumente
der Währungspolitik nicht auf die Festsetzung der Höhe der Leitzinssätze oder das
Halten der Mindestreserven.
8
Der Währungspolitik ist Kapitel 2 des Titels VIII des AEUV gewidmet. Gemäß
der ersten Bestimmung dieses Kapitels (Art. 127 AEUV) ist das vorrangige Ziel
des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) die Gewährleistung der
Preisstabilität. Das ESZB ist zudem befugt, die Wirtschaftspolitik der
Mitgliedstaaten zu unterstützen. Unter Berücksichtigung der Systematik des
AEUV (Art. 127 befindet sich in dem Kapitel „Währungspolitik“) sind zu den
Instrumenten der Währungspolitik im Sinne des AEUV Instrumente zu zählen, die
die Gewährleistung der Preisstabilität bezwecken, und Maßnahmen, die die
Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten unterstützen, soweit dadurch die
Verwirklichung dieses Zwecks nicht beeinträchtigt wird.
9
Dieser Schluss findet seine ausdrückliche Bestätigung in Art. 119 Abs. 2 AEUV,
wonach die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Union nach Maßgabe der
Verträge und der darin vorgesehenen Verfahren die Festlegung und Durchführung
einer einheitlichen Geld- sowie Wechselkurspolitik umfasst, die beide vorrangig
das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Ziels die allgemeine
[Or. 7] Wirtschaftspolitik in der Union unter Beachtung des Grundsatzes einer
offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen.
10 Zur Währungspolitik im Sinne des AEUV sind also solche Maßnahmen des ESZB
zu zählen, deren vorrangiges Ziel die Aufrechterhaltung der Preisstabilität im
Eurosystem ist, und zwar auch dann, wenn sie den Bereich der Wirtschaftspolitik
berühren.
11 Die Bewertung, ob das jeweilige Instrument zur Währungspolitik gehört und sich
damit im Rahmen der Zuständigkeit des ESZB bewegt, muss daher nach Maßgabe
des Ziels der jeweiligen Maßnahme erfolgen.
II.1.2. Ziel des OMT-Beschlusses
12 Aus dem OMT-Beschluss geht hervor, dass sein Ziel in der „Sicherstellung einer
ordnungsgemäßen geldpolitischen Transmission und der Einheitlichkeit der
Geldpolitik“ bestand. Dieses Ziel gehört ohne Zweifel zur Währungspolitik und
fällt in die Zuständigkeit der EZB. Eine ordnungsgemäße geldpolitische
Transmission ist nämlich die grundlegende Voraussetzung für die Effektivität der
Tätigkeit der Zentralbank, die auf die Aufrechterhaltung der Preisstabilität
gerichtet ist.
13 Das unmittelbare Ziel des OMT-Beschlusses war die Senkung der Kreditkosten
sowohl für öffentliche Institutionen als auch für private Unternehmen. Die
Beeinflussung des Marktzinsniveaus für Kredite (und in der Folge ihrer
Verfügbarkeit für öffentliche und private Einrichtungen) ist das grundlegende
Instrument der Währungspolitik sowohl der EZB als auch der nationalen
7
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
Zentralbanken. Diesem Ziel dient auch das Standardinstrument der
Währungspolitik, nämlich die Festsetzung der Leitzinssätze durch die
Zentralbank.
14 Die zunehmende Divergenz des Zinsniveaus für Bankkredite in den einzelnen
Staaten des Euroraums, die im Zuge der Schuldenkrise im Euroraum auftrat, hatte
eine Reihe von Ursachen. Zu den Ursachen dieser Divergenz gehörten Probleme
im Zusammenhang mit der übermäßigen öffentlichen und privaten Verschuldung,
die sich negativ auf die wirtschaftlichen Wachstumsperspektiven eines Teils der
Staaten (mit der Folge eines steigenden Kreditrisikos potenzieller Kreditnehmer)
sowie die finanzielle Lage und die Kosten der Finanzierung der Banken aus diesen
Staaten auswirkten. Die Zunahme dieser Divergenz beruhte aber auch auf dem
von den Investoren wahrgenommenen Risiko eines Auseinanderfallens des
Euroraums, u. a. dem sog. Redenominierungsrisiko1
[Or. 8], und den Wirkungen
einer „Ansteckung“, die als Übertragung finanzieller Instabilität in einem
größeren Umfang, als sich dies aus den normalen Verbindungen zwischen den
Märkten/Marktteilnehmern ergäbe, definiert wird.
15 Das Ziel des OMT-Beschlusses war die Schaffung eines Ausgleichs für den
negativen Einfluss dieser letztgenannten Faktoren auf das Zinsniveau für Kredite
und damit auf die Verfügbarkeit von Krediten.
16 Der OMT-Beschluss hatte nicht die Vereinheitlichung des Zinsniveaus in den
Staaten des Euroraums zum Zweck. Die Intervention der EZB war auch nicht auf
die Beseitigung der Unterschiede bei den Anleihepreisen gerichtet, die sich aus
der finanziellen und makroökonomischen Lage der Emittenten ergeben
(Abkopplung der Preise von den Marktmechanismen zu ihrer Bildung). Im
Gegenteil, der OMT-Beschluss bezweckte die Senkung des Zinsniveaus bei den
Staatsanleihen einiger Staaten des Euroraums nur insoweit, als die entsprechenden
Zinsen auf das Risiko des Auseinanderfallens des Euroraums und die fehlende
Möglichkeit der Zentralbanken der einzelnen Staaten des Euroraums, auf negative
Markterscheinungen zu reagieren, zurückzuführen sind. Diese Faktoren können
nämlich zum Auftreten von starken Liquiditätsstörungen auf dem Markt der
Staatsanleihen führen, die zu Zinserhöhungen bei Anleihen und – in Grenzfällen
nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung – zu Zahlungsproblemen
des öffentlichen Finanzsektors führen können.
17 Mit dem OMT-Beschluss sollten demnach überhöhte Zinssätze für Kredite
gesenkt werden, die in Befürchtungen hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des
jeweiligen Staats und der Möglichkeit einer wirksamen Intervention der
nationalen Zentralbank ihren Ursprung hatten.
________________________________
1 Ein Zuschlag für das Redenominierungsrisiko wird von den Investoren als Ausgleich dafür
gefordert, dass die von ihnen besessenen Aktiva, die in Euro ausgedrückt sind, infolge des
Verlassens des Euroraums durch das jeweilige Land in einer anderen Währung ausgedrückt
werden, die der Abwertung unterliegen wird.
8
GAUWEILER U. A.
18 Der OMT-Beschluss bezweckte hingegen nicht die Beseitigung solcher
Zinsdivergenzen bei Krediten, die ökonomisch begründet sind und sich aus der
von den jeweiligen Staaten betriebenen Wirtschaftspolitik oder anderen
makroökonomischen Gegebenheiten ergeben2.
19 Die Finanzkrise war unzweifelhaft ein Ausnahmezustand, während dessen die
währungspolitischen Transmissionsmechanismen einer erheblichen Schwächung
unterliegen konnten. Die Lage auf den Finanzmärkten der von der Krise
betroffenen Staaten hatte zur Folge, dass die Standardinstrumente
[Or. 9] der
Währungspolitik in Gestalt der Herabsetzung der Leitzinsen nicht den
gewünschten Effekt hatten. Daher musste die EZB auf das atypische Instrument
der
Outright Monetary Transactions zurückgreifen.
II.1.3. Angemessenheit und Erforderlichkeit
20 Der OMT-Beschluss scheint zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und
erforderlich zu sein.
21 Die Lage auf dem Markt rechtfertigte die Anwendung eines mehr
„einschneidenden“ währungspolitischen Instruments durch die EZB, selbst wenn
dadurch mittelbar einige Marktmechanismen gestört werden konnten. Die
Vertiefung der Krise und ihr Übergreifen auf andere Staaten des Euroraums zog
nämlich
die Gefahr verstärkter Beeinträchtigungen des
Transmissionsmechanismus und damit auch der Verringerung des Einflusses der
EZB auf die Gestaltung der Währungspolitik des Eurosystems nach sich, was zu
einer erheblichen Preisinstabilität hätte führen können.
22 Die im OMT-Beschluss vorgesehenen atypischen Maßnahmen der EZB zur
Steigerung der Effektivität der Währungspolitik in den Staaten des Euroraums
waren daher wegen der Intensität der Krise und den damit einhergehenden
Gefahren für die Stabilität des Eurosystems gerechtfertigt.
23 Die
Outright Monetary Transactions, die den Erwerb und den Verkauf von
Wertpapieren (u. a. von Staatsanleihen) umfassen, gehören zu den atypischen
währungspolitischen Instrumenten, die die EZB und die nationalen Zentralbanken
gemeinhin nutzen. Die Zulässigkeit der Durchführung dieser Geschäfte durch die
EZB und die nationalen Zentralbanken ergibt sich aus Art. 18 der Satzung des
ESZB und der EZB und der
Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 20.
September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems
(Leitlinie der EZB).
________________________________
2 Rede von Benoît Cœuré, Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, auf der
Konferenz „The ECB and its OMT Programme“, die am 2. September 2013 vom Centre for
Economic Policy Research und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sowie der KfW
Bankengruppe in Berlin veranstaltet wurde. Einleitende Bemerkungen zur Pressekonferenz (mit
Fragen und Antworten) von Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, und Vítor
Constâncio, Vizepräsident der Europäischen Zentralbank, Frankfurt am Main, 6. September 2012.
Abrufbar unter: http://www.ecb.europe.eu.
9
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
24 Gemäß Nr. 1.3.1 der Leitlinie der EZB spielen Offenmarktgeschäfte eine wichtige
Rolle in der Währungspolitik des Eurosystems bei der Steuerung der Zinssätze
und der Liquidität am Markt sowie der Signalisierung des währungspolitischen
Kurses. Eine Kategorie der Offenmarktgeschäfte sind die endgültigen Geschäfte
(
outright). Gemäß Nr. 3.2.1 des Kapitels 3 der Leitlinie werden als endgültige
Offenmarkttransaktionen Geschäfte bezeichnet, bei denen das Eurosystem
notenbankfähige Sicherheiten endgültig (
outright) am Markt kauft oder verkauft.
[Or. 10]
25 Die
Outright Monetary Transactions können also von der EZB (und den
nationalen Zentralbanken) angewandt werden, um die Liquiditätsstruktur des
Banksektors im Euroraum oder auch die Struktur der Preise der Aktiva auf den
Finanzmärkten des Euroraums zu ändern. Eine Änderung der Liquiditätsstruktur
des Banksektors kann die Entwicklung der Marktzinsen beeinflussen und sich so
auf die Wirksamkeit der Währungspolitik der Zentralbank auswirken. Ein
Rückgriff auf diese Instrumente scheint insbesondere in einer Situation
gerechtfertigt, in der sich das Zinsniveau auf den Finanzmärkten der Staaten des
Euroraums, u. a. auf den Märkten für Staatsanleihen, auf einem Stand bewegt, der
die Umsetzung der Ziele der Währungspolitik erschwert. In dieser Situation
reichen die Standardinstrumente der Währungspolitik nämlich nicht mehr aus, um
das überhöhte Zinsniveau auf dem Markt zu senken und damit zugleich die
Liquidität des Finanzmarkts zu erhöhen.
26 In Staaten mit einem ungestörten währungspolitischen
Transmissionsmechanismus können die Zentralbanken der mangelnden Liquidität
durch eine Senkung der Leitzinsen entgegentreten. Die Reduzierung der Zinssätze
führt grundsätzlich zur Senkung des Zinsniveaus für Bank-zu-Bank-Kredite auf
dem Markt, was den Zugang zu Krediten sowohl für private Kreditnehmer als
auch für öffentliche Einrichtungen erleichtert. Die Reduzierung der Zinssätze
bildet einen Eingriff in die Marktmechanismen, da sie dazu führt, dass das
Zinsniveau für Kredite sich abweichend von den aktuellen Marktbedingungen
gestaltet. Diese Intervention ist für den Staatshaushalt vorteilhaft, da ihretwegen
auch das Zinsniveau für Kredite sinkt, die durch den Staat aufgenommen wurden
(u. a. für Staatsanleihen). Trotz des offensichtlichen Einflusses der Änderung des
Zinsniveaus auf die finanzielle Situation des Staates – wie auch auf die
Marktmechanismen der Zinsbildung – kann die Befugnis der Zentralbanken, u. a.
der EZB, zur Festlegung der Leitzinsen nicht in Frage gestellt werden.
27 Grundsätzlich wird auch der Rückgriff der Zentralbanken – in
Ausnahmesituationen – auf atypische Instrumente der Währungspolitik nicht in
Frage gestellt. Tritt in einem bestimmten Staat eine Ausnahmesituation ein, z. B.
bei unerwarteten Liquiditätsschwankungen, werden nämlich
die
währungspolitischen Transmissionsmechanismen gestört, was dazu führt, dass die
Standardinstrumente nicht die gewünschten Wirkungen auf die Marktsituation
zeigen (die Senkung der Zinssätze bewirkt z. B. nicht die gewünschte
Verringerung der Marktzinsen für Kredite).
[Or. 11] 10
GAUWEILER U. A.
28 Durch den Erwerb von Wertpapieren von Finanzinstituten vermehrt die
Zentralbank die Geldmenge auf dem Markt, was – in Verbindung mit niedrigen
Zinsen – die Verfügbarkeit von Krediten erhöhen und die Marktzinsen für Kredite
senken soll. Mit der Maßnahme wird also ein ähnliches Ziel wie mit der Senkung
der Leitzinsen verfolgt, nur die von der Zentralbank verwendeten Mittel haben
einen anderen Charakter.
29 Der Markt für Staatsanleihen spielt eine bedeutende Rolle bei der Transmission
der
währungspolitischen Impulse. Liquiditätsstörungen auf dem
Staatsanleihenmarkt haben besonders nachteilige Auswirkungen auf den
Transmissionsmechanismus. Gegenstand der
Outright Monetary Transactions
sind daher oft Staatswertpapiere, da die diesbezüglichen Geschäfte am
effektivsten zur Entfaltung des Transmissionsmechanismus beitragen und damit
die Wirksamkeit der Währungspolitik erhöhen.
30 Der Ankauf von Wertpapieren im Rahmen der
Outright Monetary Transactions ist
ein Eingriff in die Marktmechanismen der Zinsbildung. Diese Maßnahme hat auch
einen positiven Einfluss auf den Zustand der öffentlichen Finanzen, da sie
(ähnlich wie die Senkung der Leitzinsen) zur Senkung der Zinsen für
Staatsanleihen führt. Diese Folgen gelten jedoch als ein unvermeidbarer
Nebeneffekt der von der Zentralbank vorgenommenen Intervention und erlauben
es nicht, die Zulässigkeit von
Outright Monetary Transactions als ein Instrument
der Währungspolitik in Frage zu stellen. Jede Intervention der Zentralbank wirkt
sich nämlich auf den Markt aus und bildet in gewissem Umfang einen Eingriff in
die Marktmechanismen. Die potenziellen Auswirkungen einer Intervention der
Zentralbank auf den Staatshaushalt – wie auch die Auswirkungen in Form einer
Störung der Marktmechanismen – können daher nicht gegen die Zulässigkeit der
jeweiligen Maßnahme als Instrument der Währungspolitik sprechen. Andernfalls
stünden den Zentralbanken
de facto keine währungspolitischen Instrumente zur
Verfügung.
31 Bei der Nutzung der einzelnen Instrumente der Währungspolitik wacht die
Zentralbank jedoch darüber, dass die einzelne Intervention – unabhängig von
politischem Druck jedweder Art – nur dann und in einem solchen Umfang
durchgeführt wird, wie dies zur Erreichung des übergeordneten Ziels der
Zentralbank erforderlich ist. Die Unabhängigkeitsgarantien der Zentralbank (im
funktionalen, institutionellen, personellen und finanziellen Bereich) sollen
verhindern, dass die Instrumente der Währungspolitik zu anderen Zwecken als zur
Erfüllung der Aufgaben der Zentralbank eingesetzt werden.
32 Nach Auffassung der Republik Polen kann kaum der in dem Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht vorgetragenen Ansicht gefolgt werden, wonach eine
bessere Lösung als das OMT-Programm
[Or. 12] in einer besseren Regelung des
Bankensystems oder einer Vereinfachung der Verfahren zur Vergabe
grenzüberschreitender Kredite bestehen könnte.
11
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
33 In den letzten Jahren kam es zu einem großen Fortschritt auf dem Gebiet der
Regelung des Bankensystems. Die eingeführten Änderungen bezwecken die
Verschärfung und die weitere Vereinheitlichung der Vorschriften über die
Bankenaufsicht in der Europäischen Union. Jüngstes Beispiel einer Regelung für
den Bankensektor ist das komplexe CRD IV/CRR-Paket, das restriktivere
Anforderungen an die Höhe und die Beschaffenheit des Bankenkapitals einführt
und das Instrumentarium sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene
vereinheitlicht. Die volle Anpassung der Banken an die neuen
Aufsichtsanforderungen sollte das Bankensystem erheblich stärken und
stabilisieren. Für die Banken, insbesondere solche in einer schwächeren
finanziellen Verfassung, wird die Anpassung an die neuen
Aufsichtsanforderungen eine große Herausforderung darstellen. Bei einem Teil
der Banken erfolgt die Anpassung durch eine Verschärfung der Kreditpolitik, was
dazu führen wird, dass der Zugang zu Krediten auch für diejenigen Unternehmen
beschränkt wird, die trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage gewinnträchtige
Projekte verwirklichen und zum Wirtschaftswachstum beitragen könnten. Der
OMT-Beschluss ist daher auch unter dem Gesichtspunkt des Abbaus derartiger
Unzulänglichkeiten des Markts zu sehen.
34 Darüber hinaus ist anzumerken, dass sich die Finanzierungskosten für
Unternehmen, insbesondere für die kleinen und mittleren, vor allem an den
Kosten von Bankkrediten bemessen. Kleine und mittlere Unternehmen verfügen
im Gegensatz zu großen Unternehmen nur über beschränkte Möglichkeiten, ihre
Finanzierung durch die Emission von Schuldinstrumenten (also unter Umgehung
der Banken) zu sichern. Es gibt zwar (wegen der Kapitalverkehrsfreiheit) formell
keine Beschränkungen bei der Vergabe von grenzüberschreitenden Krediten
innerhalb der Union, doch ist die Aufnahme von grenzüberschreitenden
Bankkrediten für kleine und mittlere Unternehmen, die z. B. keine Ratingnote
besitzen, erschwert. Die Vergabe eines Kredits an ein solches Unternehmen
erfordert nämlich eine genaue Analyse seiner finanziellen Situation, deren
grenzüberschreitende Durchführung mit Schwierigkeiten verbunden ist.
Vereinfachungen im Hinblick auf die Vergabe von internationalen Krediten
würden daher die in einigen Staaten des Euroraums aufgetretenen Probleme der
Liquidität von Unternehmen nicht lösen. Der Rückgriff auf das
währungspolitische Instrument in Gestalt des OMT-Programms war daher zur
Erreichung des angestrebten Ziels unentbehrlich.
[Or. 13]
II.1.4. Selektivität
35 Der OMT-Beschluss begrenzt den Bereich der vorgesehenen Intervention der
EZB formal nicht auf Wertpapiere, die nur von bestimmten Staaten des
Euroraums emittiert wurden. Unter Berücksichtigung des Ziels dieses
Beschlusses, seiner Verknüpfung mit den ESM- und EFSF-Programmen sowie der
seinen Erlass begleitenden Aussagen des Führungsgremiums der EZB3 kann
________________________________
3 Siehe vorherige Fußnote.
12
GAUWEILER U. A.
dennoch der Schluss gezogen werden, dass der Erwerb nur die Staatsanleihen
derjenigen Staaten des Euroraums betreffen sollte, in denen der
währungspolitische Transmissionsmechanismus den größten Verwerfungen
ausgesetzt war (in denen sich das Zinsniveau für Kredite am erheblichsten von
den Marktbedingungen und den makroökonomischen Gegebenheiten entfernte).
Wenn es also zum Ankauf von Anleihen durch die EZB gekommen wäre, wären
davon in der Praxis sicherlich öffentliche Wertpapiere von Staaten betroffen, die
von der Krise am heftigsten erschüttert wurden.
36 Die Selektivität der geplanten Intervention bedeutet jedoch nicht, dass dieses
Mittel die Grenzen der Währungspolitik überschreitet. Seine Selektivität belegt
vielmehr sowohl die Verhältnismäßigkeit und die Angemessenheit der geplanten
Intervention als auch ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Ziel der
EZB, der Gewährleistung der Einheitlichkeit der Geldpolitik (Art. 119 AEUV und
Art. 127 AEUV).
37 Nach Auffassung der Republik Polen begründet die „Einheitlichkeit der
Geldpolitik“ nicht die Notwendigkeit, dass die EZB gleiche atypische Instrumente
der Währungspolitik in Bezug auf alle Staaten des Euroraums anwendet. Die
Einheitlichkeit der Geldpolitik ist vielmehr als die Einheitlichkeit der Ziele und
der Grundsätze dieser Politik zu verstehen und bedeutet nicht, dass in allen
Staaten identische Instrumente eingesetzt werden müssen. Die Erreichung eines
einheitlichen Ziels der Währungspolitik der Union erfordert die Anpassung der
eingesetzten Mittel (insbesondere ihres Umfangs und ihrer Intensität) an die
aktuelle Marktlage, die sich in den einzelnen Mitgliedstaaten verschiedenartig
gestalten kann.
38 Die währungspolitischen Standardinstrumente (z. B. die Festlegung der Leitzinsen
durch die EZB) betreffen zwar einheitlich alle Staaten des Euroraums, einige
atypische Instrumente (z. B.
Outright Monetary Transactions) erfordern indessen
schon ihrem Wesen nach eine selektive Anwendung. Es handelt sich dabei
nämlich um ein Mittel, mit dem die Zentralbank auf Ausnahmezustände reagiert,
die nicht in allen Staaten des Euroraums auftreten müssen (und es für gewöhnlich
auch nicht tun). Es ist daher begründet und erforderlich,
[Or. 14] dass die EZB sie
nur im Hinblick auf einige Staaten nutzt (insbesondere angesichts des Umstands,
dass die nationalen Zentralbanken dieser Staaten nicht über die Möglichkeit
verfügen, individuell über die Anwendung dieser Instrumente zu entscheiden).
39 Die Selektivität der im OMT-Beschluss vorgesehenen Maßnahme war durch das
übergeordnete Ziel der Union, die Einheitlichkeit der Geldpolitik (Art. 119
AEUV), bedingt. Die EZB beabsichtigte, durch eine Verbesserung des
Transmissionsmechanismus in einigen Staaten des Euroraums die Wirksamkeit
der Standardmechanismen der Währungspolitik im gesamten Euroraum
wiederherzustellen, um sich damit in die Lage zu versetzen, eine einheitliche
Währungspolitik des Eurosystems zu betreiben, was in voller Übereinstimmung
mit den Art. 119 AEUV und 127 AEUV steht.
13
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
40 Nach Auffassung der Republik Polen spricht die Selektivität des Programms somit
nicht gegen seine Vereinbarkeit mit dem AEUV. Im Gegenteil, gerade die
Ausdehnung des Programms auf alle Staaten des Euroraums könnte den Vorwurf
einer Zuständigkeitsüberschreitung durch die EZB und einer Verletzung von
Art. 123 AEUV begründen.
41 Hinzuzufügen ist, dass die Anwendung von atypischen Interventionsinstrumenten
der Währungspolitik auf Märkten mit einer stabilen Liquidität die in diesen
Ländern funktionierenden Marktmechanismen stören und sich infolgedessen
negativ auf den währungspolitischen Transmissionsmechanismus auswirken
könnte (wovon dann auch die Preisstabilität betroffen wäre).
II.1.5. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Marktmechanismen
42 Wie oben aufgezeigt, waren die Fragmentierung der Finanzmärkte, die ihren
Ursprung in den engen Verbindungen zwischen dem Banksektor des jeweiligen
Landes und dem Sektor der öffentlichen Finanzen hatte, und die unzutreffende
Bewertung des Kreditrisikos durch die Finanzmarktteilnehmer (wegen der Furcht
der Investoren vor einem Auseinanderfallen des Euroraums bestehendes
Redenominierungsrisiko) die wesentlichen Gründe für die Störung des
Transmissionsmechanismus in den von der Krise betroffenen Staaten.
43 Der OMT-Beschluss hatte weder die Vereinheitlichung des Zinsniveaus in den
Staaten des Euroraums noch seine Abkoppelung von den Marktmechanismen der
Preisbildung zum Ziel. Er war nicht auf die Beseitigung der Unterschiede bei den
Anleihepreisen gerichtet, die sich aus der finanziellen und makroökonomischen
Situation der Emittenten ergeben.
44 Das OMT-Programm zielte darauf ab, der EZB die Durchführung von
Maßnahmen zu ermöglichen, die den Eintritt von extremen Negativszenarien
verhindern sollten, die die Erreichung des grundlegenden Ziels hätten gefährden
können, das die Gewährleistung der Preisstabilität ist (Art. 127 AEUV). Eine
Voraussetzung für die Preisstabilität
[Or. 15] über einen langandauernden
Zeitraum – wie auch für das ungestörte Funktionieren des währungspolitischen
Transmissionsmechanismus – ist nämlich die Aufrechterhaltung der finanziellen
Stabilität. Daher verfügen die Zentralbanken über Mandate zur Umsetzung von
Aufgaben und Pflichten auf dem Gebiet der finanziellen Stabilität (bei einigen
Banken wurden diese Mandate infolge der Krise erheblich erweitert). In Bezug
auf die EZB bestimmt Art. 127 Abs. 5 AEUV, dass „[d]as ESZB ... zur
reibungslosen Durchführung der von den zuständigen Behörden auf dem Gebiet
der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems
ergriffenen Maßnahmen bei[trägt]“. Die Zentralbank muss in der Lage sein, die
Liquidität der verschiedenen Segmente der Finanzmärkte zu sichern, wenn sie
unter dem Gesichtspunkt der Transmission der währungspolitischen Impulse von
Bedeutung sind, und auf diese Weise selbsterfüllende Prophezeiungen über
Liquiditätsengpässe zu verhindern.
14
GAUWEILER U. A.
45 Die im OMT-Beschluss angekündigte Intervention war daher im Hinblick auf das
Ziel, die Abwehr von Gefahren für die Preisstabilität im Zusammenhang mit
Marktverwerfungen, verhältnismäßig.
II.1.6. Verknüpfung mit den ESM- und EFSF-Programmen
46 Die im OMT-Beschluss vorgesehene Intervention der EZB zielte nicht darauf ab,
die Zahlungsfähigkeit der Emittenten zu stärken. Diesem Ziel dienten nämlich die
ESM- und EFSF-Hilfsprogramme, deren vollständige Umsetzung durch den
jeweiligen Staat eine Voraussetzung für die Aufnahme dieses Staates in das
OMT-Programm war. Der Ankauf von Staatsanleihen (auf dem Primär- oder dem
Sekundärmarkt) durch den ESM mit dem Ziel, die Zahlungsfähigkeit des Staates
zu stärken, ist ein Hilfsinstrument nach den Bestimmungen des Vertrags zur
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag). Die im
OMT-Beschluss vorgesehene Intervention der EZB war hingegen darauf gerichtet,
das Zinsniveau für Staatsanleihen (und dadurch auch die Marktzinsen) zu
beeinflussen und auf diese Weise die Liquidität in einer Situation zu erhöhen, in
der die währungspolitischen Standardinstrumente sich als unzureichend zur
Erreichung dieses Ziels erwiesen haben. Sein Ziel war also ein anderes als die
Ziele der o. g. Hilfsprogramme.
47 Die Bedingtheit und die Parallelität des OMT-Programms und der ESM- und
EFSF-Programme bedeuten keinesfalls, dass der OMT-Beschluss zur
Wirtschaftspolitik und nicht zur Währungspolitik gehört. Im Urteil in der
Rechtssache
Pringle, C-370/12, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die im ESM-
Vertrag vorgesehenen Maßnahmen zum Bereich der Wirtschaftspolitik und nicht
der Geldpolitik gehören (Rn. 40∗). Dies bedeutet aber nicht, dass
[Or. 16] der
OMT-Beschluss – wegen seiner Verknüpfung mit dem Programm des ESM
(EFSF) – ebenfalls diesen Charakter hat. Dieser Schluss kann aus den
Ausführungen im Urteil
Pringle, C-370/12, nicht gezogen werden. In diesem
Urteil (Rn. 96 und 97) hat der Gerichtshof festgestellt, dass der ESM-
Mechanismus „nicht die Preisstabilität gewährleisten, sondern den
Finanzierungsbedarf der ESM-Mitglieder, d. h. der Mitgliedstaaten, deren
Währung der Euro ist, decken [soll], die schwerwiegende Finanzierungsprobleme
haben oder denen solche Probleme drohen, wenn dies zur Wahrung der
Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten
unabdingbar ist. Zu diesem Zweck ist der ESM weder zur Festsetzung der
Leitzinssätze für das Euro-Währungsgebiet noch zur Ausgabe von Euro-Münzen
oder -Banknoten befugt“. Der Gerichtshof fügte hinzu, dass „die etwaigen
Auswirkungen der Tätigkeiten des ESM auf die Preisstabilität an dieser
Feststellung nichts ändern [können]. Denn selbst wenn man unterstellt, dass die
Tätigkeiten des ESM die Inflationsrate beeinflussen könnten, würde ein solcher
Einfluss nur die mittelbare Folge der getroffenen wirtschaftspolitischen
Maßnahmen darstellen“.
________________________________
∗ AdÜ.: Gemeint ist wohl Rn. 60.
15
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
48 Der Gerichtshof hat also vor allem auf das Ziel des ESM-Programms abgestellt,
das darin besteht, den Mitgliedstaaten Finanzhilfen zu gewähren. In diesem
Zusammenhang kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass „[d]ie Gewährung
einer Finanzhilfe für einen Mitgliedstaat ... aber offenkundig nicht zur
Währungspolitik [gehört]“ (Rn. 57 des Urteils
Pringle, C-370/12).
49 Die im Urteil
Pringle, C-370/12, enthaltene Bewertung des Gerichtshofs betrifft
also einen Mechanismus, dessen grundlegendes Ziel darin bestand, Staaten
finanziell zu unterstützen, während die Gewährleistung der Preisstabilität
(Verhinderung der Inflation) nur eine mittelbare Folge war. Der OMT-Beschluss
hat indessen einen anderen Charakter. Sein grundlegendes Ziel besteht gerade in
der Gewährleistung der Preisstabilität, potenzielle positive Folgen für den
Haushalt können nur eine mittelbare Folge der angekündigten Intervention sein.
Dieser Umstand ist für die Zuordnung des OMT-Beschlusses zum Bereich der
Währungspolitik ausschlaggebend.
II.1.7. Finanzielles Risiko
50 Nach Auffassung der Republik Polen verringerte die Verknüpfung der
OMT-Intervention mit der Umsetzung eines ESM- oder EFSF-Hilfsprogramms
das finanzielle Risiko des Erwerbs von Anleihen der verschuldeten Staaten durch
die EZB. Die Bedingtheit und die Parallelität der ESM- und EFSF-Programme
verringern das Risiko der Zahlungsunfähigkeit des Empfängers, weil sie die
Ingangsetzung
[Or. 17] des OMT-Programms von der bereits erfolgten
Durchführung eines makroökonomischen Anpassungsprogramms zur Kräftigung
des Finanzsystems durch den jeweiligen Staat abhängig machen.
51 Ein makroökonomisches Anpassungsprogramm soll das Risiko der
Zahlungsunfähigkeit des jeweiligen Staates verringern. Die Umsetzung von
Programmen, die der „Heilung“ des Finanzsystems dienen, durch den Staat sollte
gleichzeitig potenzielle Schwierigkeiten mildern, die mit der Rückkehr zu
konventionellen Werkzeugen der Währungspolitik verbunden waren.
52 Unter Berücksichtigung des Umstands, dass das OMT-Programm so konzipiert
wurde, dass das Risiko der Verwirklichung extremer Szenarien im Euroraum
vermindert werden soll, müssen die damit eventuell verbundenen Kosten zudem
vor dem Hintergrund der Vorteile gesehen werden, die daraus erwachsen, dass die
Wahrscheinlichkeit des Eintritts selbsterfüllender Prophezeiungen über Krisen
und finanzielle Instabilität abnimmt.
53 Es muss betont werden, dass der OMT-Beschluss nicht die Übernahme einer
Haftung für die Schulden der von dem Programm umfassten Mitgliedstaaten
durch die EZB vorsieht. In diesem Kontext ist auf den Standpunkt zu verweisen,
den der Gerichtshof in Rn. 141 des Urteils
Pringle, C-370/12, vertreten hat,
wonach „zum Ankauf von Anleihen eines ESM-Mitglieds am Sekundärmarkt
16
GAUWEILER U. A.
festzustellen [ist], dass auch in einem solchen Fall allein der ausgebende
Mitgliedstaat für die fraglichen Schulden haftbar bleibt“.
54 Der OMT-Beschluss dient nur dazu, dass das Zinsniveau der künftigen
Kredittranchen den makroökonomischen Bedingungen entspricht. Diese
Maßnahme wird zwar zu Zinsabschlägen bei Staatsanleihen führen, was für den
Emittenten vorteilhaft ist, dies geschieht jedoch keinesfalls auf Kosten der
nationalen oder der supranationalen Zentralbank. Im Gegenteil, wenn der
Schuldner nicht zahlungsunfähig wird, gewinnt die Zentralbank am meisten an
dem ganzen Vorhaben, weil sie die Schuldpapiere zum höchst günstigsten Preis
erwirbt (infolge der Intervention wird der Preis für die späteren Emissionen
fallen).
II.1.8. Fehlendes Risiko der Umgehung der Bedingungen der EMS- und
EFSF-Programme
55 Nach Auffassung der Republik Polen macht die Konstruktion des
OMT-Programms sowie der ESM- und EFSF-Programme die Ausnutzung des
OMT-Programms zur Umgehung der Bedingungen der ESM- und
EFSF-Programme unmöglich. Eine Bedingung für die Durchführung des
OMT-Programms ist die Umsetzung von Reformen im Rahmen des ESM- oder
EFSF-Programms durch den jeweiligen Staat. Der Beginn des Ankaufs von
Staatsanleihen durch die EZB im Rahmen des OMT-Programms ist
[Or. 18] von
einem Beschluss des Gouverneursrats des ESM über die Einleitung oder
Fortführung eines Hilfsprogramms des ESM (EFSF) abhängig. Der Beschluss des
Gouverneursrats des ESM zieht jedoch nicht automatisch den Ankauf von
Anleihen im Rahmen des OMT-Programms nach sich.
56 Gemäß Art. 5 Abs. 6 des ESM-Vertrags fasst der Gouverneursrat die wichtigsten
Beschlüsse im gegenseitigen Einvernehmen. Dies betrifft insbesondere die
„Gewährung von Stabilitätshilfe durch den ESM einschließlich der …
wirtschaftspolitischen Auflagen sowie Wahl der Instrumente und Festlegung der
Finanzierungsbedingungen“ (Buchst. f) sowie die „Erteilung des Mandats an die
Europäische Kommission, im Benehmen mit der EZB die an jede Finanzhilfe
gebundenen wirtschaftspolitischen Auflagen auszuhandeln“ (Buchst. g)4. Keiner
dieser Beschlüsse kann gegen den Willen eines der Mitglieder des
Gouverneursrats gefasst werden, bei denen es sich gemäß Art. 5 Abs. 1 des ESM-
Vertrags um die nationalen Finanzminister handelt. In allen Mitgliedstaaten sind
diese Minister hingegen politisch den nationalen Parlamenten gegenüber
verantwortlich. Dies bedeutet, dass die Schlüsselentscheidungen betreffend den
Ankauf von Staatsanleihen im Rahmen des OMT-Programms mittelbar von der
Haltung der nationalen Parlamente abhängig sind.
57 In diesem Kontext ist auch auf die ständige und bedeutsame Zusammenarbeit
zwischen der EZB und dem Gouverneursrat des ESM (und weiter: den
________________________________
4 Vgl. auch Art. 13 Abs. 3 und Art. 14 Abs. 1 und 2 des ESM-Vertrags.
17
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
Finanzministern und den nationalen Parlamenten, denen gegenüber die Minister
verantwortlich sind) über den gesamten Zeitraum der Verhandlungen über ein
Hilfsprogramm des ESM (EFSF) und seiner Durchführung hinzuweisen. Im Fall
einer Stabilisierungshilfsmaßnahme ist die EZB an der Analyse des Finanzrisikos
für den Euroraum, des Risikos der Zahlungsunfähigkeit des einzelnen Staates und
seiner finanziellen Bedürfnisse vom frühsten Verfahrensstadium an, das
unmittelbar auf den Eingang des Stabilitätshilfeersuchens im Rahmen des EMS-
Programms folgt (Art. 13 Abs. 1 des ESM-Vertrags), beteiligt. Wie bereits
dargelegt, ist die EZB auch an den Verhandlungen über die
Finanzierungsbedingungen (sog. Memorandum of Understanding) (Art. 13 Abs. 3
des ESM-Vertrags) und an der Überwachung der Fortschritte bei der Erreichung
der makroökonomischen Ziele im Rahmen der Umsetzung des Hilfsprogramms
(Art. 13 Abs. 7 des ESM-Vertrags) beteiligt.
[Or. 19]
II.2. Fragen 1b und 2b
II.2.1. Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung der Mitgliedstaaten
58 Nach Auffassung der Republik Polen verstößt der OMT-Beschluss nicht gegen
das in Art. 123 AEUV vorgesehene Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung der
Mitgliedstaaten durch die Zentralbanken.
59 Aus dem siebten Erwägungsgrund der
Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates
vom 13. Dezember 1993 zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die
Anwendung der in Artikel 104 und Artikel 104b Absatz 1 des Vertrages
vorgesehenen Verbote geht hervor, dass die Mitgliedstaaten geeignete
Maßnahmen ergreifen müssen, damit die nach Art. 104 des Vertrags (jetzt
Art. 123 AEUV) vorgesehenen Verbote wirksam und uneingeschränkt
angewendet werden und damit insbesondere das mit diesem Artikel verfolgte Ziel
nicht durch den Erwerb auf dem Sekundärmarkt umgangen wird.
60 Gemäß Art. 123 Abs. 1 AEUV sind Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten
bei der EZB oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten für Organe,
Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder
lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften,
sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der
Mitgliedstaaten ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln
von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken.
61 Das Ziel von Art. 123 AEUV besteht darin, die Erteilung von Darlehen und
Krediten durch die Zentralbanken u. a. an Staaten und öffentliche Einrichtungen
zu verhindern. Wobei – im Fall des Erwerbs von Anleihen – nach dieser
Bestimmung als „Überziehungs- oder andere Kreditfazilität“ grundsätzlich nur der
Erwerb von Wertpapieren auf dem Primärmarkt gilt.
62 Nach Auffassung der Republik Polen lässt sich daher aus Art. 123 Abs. 1 AEUV
ableiten, dass der Erwerb von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt
18
GAUWEILER U. A.
grundsätzlich keine Form von „Überziehungs- oder anderen Kreditfazilitäten“ an
die Zentralregierung oder eine öffentliche Einrichtung ist. Daher ist diese
Maßnahme auch nicht verboten (sie ist im Umkehrschluss
erlaubt). Auch Art. 18
der Satzung der EZB und des ESZB sieht die Möglichkeit der Vornahme von
Geschäften auf den Finanzmärkten in Form des Erwerbs und des Verkaufs von
Wertpapieren durch die EZB vor (ohne dass zwischen staatlichen und
kommerziellen Papieren unterschieden wird).
63 Nach der
Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 20. September 2011 über
geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems werden für die
Outright Monetary Transactions nur die marktfähigen Sicherheiten verwendet, die
in Kapitel 6 der Leitlinie genannt werden (Nr. 3.2.4 Buchst. f
[Or. 20] der
Leitlinie). Gegenstand der
Outright Monetary Transactions können also
Schuldinstrumente sein, die von den Zentralbanken der [EU-]Mitgliedstaaten,
öffentlichen Stellen, privaten Einrichtungen oder internationalen bzw.
supranationalen Organisationen begeben oder garantiert werden (Nr. 6.2.1.6 der
Leitlinie).
64 Dies bedeutet, dass der Erwerb von öffentlichen Schuldpapieren durch die EZB
und die nationalen Zentralbanken auf dem Sekundärmarkt ein grundsätzlich
sowohl nach den Bestimmungen des AEUV (insbesondere auch der Satzung der
EZB und des ESZB) als auch nach der Leitlinie der EZB zulässiges Instrument
der Währungspolitik der EZB darstellt.
65 Der Erwerb von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt durch die EZB könnte nur
dann gegen Art. 123 AEUV verstoßen, wenn er der Umgehung des in dieser
Bestimmung aufgestellten Verbots diente. Von einer Umgehung dieses Verbots
könnte wiederum nur dann die Rede sein, wenn der Ankauf von Anleihen auf dem
Sekundärmarkt darauf abzielte, dem Staat „Überziehungs- oder andere
Kreditfazilitäten“ zu gewähren, und nicht auf die Umsetzung der Währungspolitik
durch die EZB.
66 Die Bewertung, ob der Ankauf von öffentlichen Wertpapieren durch die
Zentralbank eine Umgehung des in Art. 123 AEUV aufgestellten Verbots
darstellen kann, muss daher unter dem Gesichtspunkt des Ziels des einzelnen
Geschäfts vorgenommen werden. Wäre die Finanzierung des öffentlichen
Haushalts ein Ziel des OMT-Beschlusses, könnte in der Tat von einer Umgehung
des in Art. 123 AEUV niedergelegten Verbots gesprochen werden. Wie bereits
erläutert, verfolgt das OMT-Programm aber ein anderes Ziel. Im Fall von
Geschäften wie den im Rahmen des OMT-Programms getätigten, deren
grundlegendes Ziel darin besteht, die währungspolitischen Aufgaben der
Zentralbank zu erfüllen, kann von einer Umgehung des erwähnten Verbots nicht
die Rede sein, und zwar selbst dann nicht, wenn sich diese Geschäfte positiv auf
die Finanzierung des öffentlichen Haushalts auswirken. Aus ökonomischer Sicht
führt der Ankauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank immer zu
Zinsabschlägen bei diesen Anleihen auf dem Markt, unabhängig von der Anzahl
19
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
der erworbenen Anleihen, dem Zeitabstand zu ihrer Ausgabe und der
Zahlungsfähigkeit des emittierenden Staates. Die potenziellen positiven
Auswirkungen des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB auf die Haushalte
der vom OMT-Programm umfassten Staaten (in Gestalt von Zinsabschlägen für
diese Anleihen und damit der Senkung der Tilgungskosten für die Staaten, die sie
emittieren) können daher nicht von der Unvereinbarkeit dieser Geschäfte mit
Art. 123 AEUV zeugen. Andernfalls würde nämlich Art. 123 AEUV ein
allgemeines Verbot des Ankaufs von Staatsanleihen auch auf dem Sekundärmarkt
vorsehen.
[Or. 21]
II.2.2. Handeln im Rahmen des Mandats der EZB als Bedingung für die
Vereinbarkeit des OMT-Beschlusses mit Art. 123 AEUV
67 Nach Auffassung der Republik Polen ergibt sich die Antwort auf die Fragen 1b
und 2b größtenteils aus der Antwort auf die Fragen 1a und 2a. Hätte der
OMT-Beschluss die Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten zum Ziel,
dann gehörte er im Licht des Urteils
Pringle, C-370/12, zum Bereich der
Wirtschaftspolitik, sein Erlass wäre aber nicht vom Mandat der EZB gedeckt.
Zugleich könnte es sich dabei um eine Umgehung des in Art. 123 AEUV
verankerten Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung der Mitgliedstaaten
handeln. Handelt die EZB im Rahmen der ihr zustehenden Kompetenzen, zeugt
dies hingegen von der Vereinbarkeit des OMT-Beschlusses mit Art. 123 AEUV.
Die Erfüllung ihrer vertraglichen Aufgaben (die Anwendung von Instrumenten,
die ausdrücklich im AEUV vorgesehen sind) durch die EZB kann nicht als eine
Verletzung (Umgehung) dieses Vertrags angesehen werden.
68 Mit dem AEUV wurde ein in sich kohärentes Rechtssystem geschaffen. Daher ist
eine Auslegung seiner Bestimmungen abzulehnen, nach der die EZB einerseits zur
Vornahme einer bestimmten Maßnahme (die der Erfüllung der vertraglichen
Aufgaben der EZB im Bereich der Währungspolitik dient) berechtigt wäre, nach
der diese Maßnahme aber andererseits als eine Umgehung des Rechts verboten
wäre.
69 Die Republik Polen hat bereits aufgezeigt, dass das Ziel des OMT-Beschlusses
nicht die Finanzierung der Haushalte der Mitgliedstaaten war, sondern die
Gewährleistung der Erfüllung der Aufgaben der Währungspolitik – und damit
auch der finanziellen Stabilität in der Währungsunion – durch die Senkung des im
Verhältnis zu den ökonomischen Grundlagen übermäßigen Risikozuschlags, der
in den Marktzinssätzen in einigen Staaten des Euroraums enthalten war. Dieses
Ziel fällt ohne Zweifel in den Zuständigkeitsbereich der EZB. Daher kann der
OMT-Beschluss nicht als eine Umgehung des in Art. 123 AEUV niedergelegten
Verbots angesehen werden.
20
GAUWEILER U. A.
II.2.3. Unbegrenztheit des OMT-Beschlusses als Wirksamkeitsvoraussetzung
der Intervention der EZB
70 Der unbegrenzte Charakter der Intervention der EZB (laut OMT-Beschluss) zeugt
nicht von einer Umgehung des Verbots der Finanzierung öffentlicher Haushalte.
Outright Monetary Transactions in Gestalt des An- und Verkaufs von
Wertpapieren (u. a. von Staatsanleihen) sind währungspolitische Instrumente,
deren Anwendung durch die EZB und die nationalen Zentralbanken zur Änderung
der Liquiditätsstruktur im Banksektor oder
[Or. 22] der Struktur der Preise von
Staatsanleihen, die durch die Staaten des Euroraums emittiert werden, vorgesehen
ist. Zur Wirksamkeit der
Outright Monetary Transactions ist es erforderlich, dass
die Zentralbank bei der Wahl und der Anwendung des jeweiligen Instruments frei
ist, da nur dann eine effektive Währungspolitik betrieben werden kann.
71 Die Wirksamkeit der
Outright Monetary Transactions kann nur dann
sichergestellt werden, wenn die Möglichkeit ihrer Durchführung nicht durch
Vorbedingungen begrenzt wird, die insbesondere das Geschäftsvolumen, die
Kriterien zur Auswahl der Wertpapiere, die Geschäftsgegenstand sind (u. a. den
zeitlichen Abstand seit der Ausgabe der Papiere auf dem Primärmarkt, die
Zahlungsfähigkeit des Schuldners), und den Zeitraum, über den die Zentralbank
die Papiere hält, betreffen. Der OMT-Beschluss kann daher nicht allein deswegen
als eine Umgehung des in Art. 123 AEUV enthaltenen Verbots angesehen werden,
weil darin ein unbegrenzter Erwerb von Staatsanleihen vorgesehen wurde und
insbesondere weder das Geschäftsvolumen oder der zeitliche Abstand seit der
Ausgabe auf dem Primärmarkt noch der Zeitraum, über den die EZB die Papiere
hält, beschränkt wurde. Im Gegenteil, das Fehlen dieser Vorbedingungen trägt zur
Wirksamkeit einer eventuellen Intervention, wie sie im OMT-Beschluss
vorgesehen ist, bei, da sie ihre Anpassung an die aktuelle Marktsituation
ermöglicht.
72 Es ist zu betonen, dass die fehlende Beschränkung im OMT-Beschluss
hinsichtlich der Anzahl der zu erwerbenden Anleihen nicht bedeutet, dass der
Ankauf mengenmäßig nicht begrenzt sein wird. In der Praxis wird die EZB
nämlich so viele Anleihen erwerben, wie sie zur Erreichung des verfolgten Ziels
für erforderlich hält. Der Erwerb von Anleihen im Rahmen der OMT wird also
de
facto mengenmäßig begrenzt sein; als der OMT-Beschluss erlassen wurde, war es
aber nicht möglich, die mengenmäßige Obergrenze der künftigen potenziellen
Intervention zu bestimmen.
73 Auch die fehlenden Beschränkungen im Hinblick auf die Kreditqualität der
erworbenen Wertpapiere und das Risiko der Teilnahme an einem Schuldenschnitt
bedeuten nicht, dass die Intervention der EZB insoweit einen unbeschränkten und
willkürlichen Charakter hat. Beschränkungen ergeben sich nämlich daraus, dass
die Intervention der EZB zur Voraussetzung hat, dass der jeweilige Staat das
ESM- oder EFSF-Programm, dessen Ziel die Verhinderung der
Zahlungsunfähigkeit ist, umsetzt. Die Verknüpfung der Intervention im Rahmen
21
SCHRIFTLICHE ERKLÄRUNGEN POLENS – RECHTSSACHE C-62/14
des OMT-Programms mit der Umsetzung des EMS-Programms minimiert daher
das Ausfall- und das Schuldenschnittrisiko.
III. ENTSCHEIDUNGSVORSCHLAG
74 Im Licht der obigen Erwägungen schlägt die Republik Polen dem Gerichtshof der
Europäischen Union vor, die vom Bundesverfassungsgericht vorgelegten
Vorabentscheidungsfragen wie folgt zu beantworten:
Die Art. 119, 123 und 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis 24 des
Protokolls über die Satzung des ESZB und der EZB sind in der Weise
auszulegen, dass sie es nicht verwehren, dass Maßnahmen wie der Beschluss
des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über den
endgültigen und unbegrenzten Erwerb von Anleihen einiger Staaten des
Euroraums (Technical features of Outright Monetary Transactions) erlassen
werden.
Dieser Beschluss ist vom Mandat der Europäischen Zentralbank zur
Durchführung der Währungspolitik der Union gedeckt und verstößt nicht
gegen das in Art. 123 AEUV verankerte Verbot monetärer
Haushaltsfinanzierung.
Bogusław Majczyna
Bevollmächtigter der Republik Polen
22