Übersetzung
C-493/17 - 46
Schriftliche Erklärungen
Rechtssache C-493/17*
Schriftstück eingereicht von:
Portugiesische Republik
Übliche Bezeichnung der Rechtssache:
WEISS u. a.
Eingangsdatum:
29. November 2017
MINISTERIUM FÜR AUSWÄRTIGE ANGELEGENHEITEN
Generaldirektion für Europäische Angelegenheiten
Gerichtshof
der
Europäischen Union
Rechtssache C-493/17
Weiss u. a.
ERKLÄRUNGEN
DER
PORTUGIESISCHEN REPUBLIK
zum Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland)
über die Auslegung der Art. 119, 123 Abs. 1 und 127 Abs. 1 und 2 AEUV, der
Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der
Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank und des Beschlusses (EU)
2015/774
der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 über ein Programm
zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten
(EZB/2015/10) in der Fassung des Beschlusses (EU) 2015/2101 der Europäischen
Zentralbank vom 5. November 2015 zur Änderung des Beschlusses (EU)
* Verfahrenssprache: Deutsch.
DE
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen
Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/33), des Beschlusses (EU) 2016/702
der Europäischen Zentralbank vom 18. April 2016 zur Änderung des Beschlusses
(EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des
öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2016/8) und des Beschlusses
(EU) 2016/1041 der Europäischen Zentralbank vom 22. Juni 2016 über die
Notenbankfähigkeit der von der Hellenischen Republik begebenen oder in vollem
Umfang garantierten marktfähigen Schuldtitel und zur Aufhebung des
Beschlusses (EU) 2015/300 (EZB/2016/18) in einer Rechtssache, in der es um das
Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den
Sekundärmärkten und die Durchführung des Beschlusses (EU) 2015/774 geht
[Or. 2]
Lissabon, den 13. November 2017
An den Präsidenten und die Richter
des Gerichtshofs der Europäischen Union
Die
portugiesische Regierung, vertreten durch Luís Inez Fernandes, Miguel
Figueiredo, Tiago Larsen und Pedro Machado als Bevollmächtigte, legt nach
Zustellung des Vorabentscheidungsersuchens des Bundesverfassungsgerichts
(Deutschland) in der
Rechtssache C-493/17 gemäß Art. 23 des Protokolls über
die Satzung des Gerichtshofs ihre nachfolgenden Erklärungen mit folgender
Begründung vor:
I – Hintergrund der Rechtssache
1.
Anfang 2015, als die Europäische Zentralbank (EZB) beschloss, das
Expanded Asset Purchase Programme (APP) einzuführen, das Ankäufe von
Anleihen umfassen würde, die von im Euroraum ansässigen Zentralstaaten,
Emittenten mit Förderauftrag und europäischen Institutionen begeben werden, sah
sich der Euroraum mit einem beispiellosen wirtschaftlichen und finanziellen
Umfeld konfrontiert. Vor diesem Hintergrund waren entschiedene geldpolitische
Maßnahmen erforderlich – unter uneingeschränkter Einhaltung der Verträge der
Europäischen Union –, um die Erfüllung des Mandats der EZB zur
Gewährleistung der Preisstabilität sicherzustellen.
2.
Das Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors
(Public Sector Asset Purchase Programme oder PSPP) ist kein isoliertes
Programm. Es fügt sich in das APP ein, das Rahmenprogramm der EZB, das aus
vier Unterprogrammen besteht: dem Programm zum Ankauf gedeckter
Schuldverschreibungen (covered bonds) (Third
[Or. 3] Covered Bond Purchase
Programme – CBPP3), dem Programm zum Ankauf forderungsbesicherter
Wertpapiere (Asset-Backed Securities Purchase Programme – ABSPP), dem
PSPP selbst und dem Programm zum Ankauf von Wertpapieren des
Unternehmenssektors (Corporate Sector Purchase Programme – CSPP).
2
WEISS U. A.
3.
Die Entscheidung der EZB, die Ankäufe auf Anleihen auszudehnen, die von
im Euroraum ansässigen Zentralstaaten, Emittenten mit Förderauftrag und
europäischen Institutionen begeben werden, wurde in einer Pressemitteilung vom
22. Januar 20151 bekannt gegeben. Dort heißt es, dass der EZB-Rat „
heute ein
erweitertes Programm zum Ankauf von Vermögenswerten angekündigt [hat]. Ziel
des Programms ist es, dass die EZB ihr Mandat zur Gewährleistung von
Preisstabilität erfüllt. Es sieht vor, dass die EZB zusätzlich zu ihren bestehenden
Programmen zum Ankauf von Vermögenswerten des privaten Sektors
Staatsanleihen ankauft, um den Risiken einer zu lang anhaltenden Phase niedriger
Inflation zu begegnen“. Weiter heißt es in der Pressemitteilung, dass der EZB-Rat
„
diesen Beschluss in einer Situation gefasst [hat], in der sich die meisten
Indikatoren für die gegenwärtige und erwartete Inflation im Euroraum
historischen Tiefständen angenähert hatten“, was „
eine starke geldpolitische
Reaktion“ erfordert habe.
4.
Gemäß dem PSPP erfolgen die Ankäufe von Anleihen, die von im Euroraum
ansässigen Zentralstaaten, Emittenten mit Förderauftrag und europäischen
Institutionen begeben werden, lediglich auf dem Sekundärmarkt. Es handelt sich
um Ankäufe gegen Zentralbankgeld, das die Verkäufer der Wertpapiere zum
Erwerb anderer Vermögenswerte und zur Kreditvergabe an die Realwirtschaft
verwenden können. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass diese Ankäufe mit
dem in Art. 123 AEUV vorgesehenen Verbot der monetären Finanzierung im
Einklang stehen.
5.
Die Einführung des PSPP stellte eine neue und wichtige Initiative im
Zusammenhang
mit
dem
erweiterten
Programm
zum
Ankauf
von
Vermögenswerten
dar,
das
[Or. 4]
das
Programm
zum
Ankauf
forderungsbesicherter Wertpapiere (ABSPP) und das Dritte Programm zum
Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen (CBPP3) umfassen würde, die beide
Ende 2014 begannen. Dass CSPP wurde im März 2016 eingeführt. Was das PSPP
betrifft, sollten Ankäufe im Wert von monatlich sechzig Milliarden Euro erfolgen
und zwar mindestens bis September 2016 und jedenfalls bis der EZB-Rat eine
nachhaltige Korrektur der Inflationsentwicklung feststellen würde, die mit dem
Ziel der EZB im Einklang stünde, mittelfristig Inflationsraten von unter, aber nahe
bei 2 % zu erreichen. Das PSPP wurde formal durch den Beschluss (EU)
2015/774 der EZB vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von
Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/10)
eingeführt und anschließend mehrfach geändert2.
6.
Gemäß Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses vom 4. März 2015 sind auf Euro
lautende marktfähige Schuldtitel, die von der Zentralregierung eines
1
https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2015/html/pr150122_1.de.html.
2
Die Änderungen erfolgten durch (i) den Beschluss (EU) 2015/2101 der EZB vom 5. November
2015 (EZB/2015/33), (ii) den Beschluss (EU) 2015/2464 der EZB vom 16. Dezember 2015
(EZB/2015/48), (iii) den Beschluss (EU) 2016/702 der EZB vom 18. April 2016 (EZB/2016/8)
und (iv) den Beschluss (EU) 2017/100 der EZB vom 11. Januar 2017 (EZB/2017/1).
3
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Mitgliedstaats, dessen Währung der Euro ist, anerkannten Organen mit Sitz im
Euro-Währungsgebiet,
internationalen
Organisationen
mit
Sitz
im
Euro-Währungsgebiet und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im
Euro-Währungsgebiet für Ankäufe durch die Zentralbanken des Eurosystems
begeben werden, zulässig. Angekündigt wurde im Rahmen des APP zunächst ein
monatliches Ankaufvolumen von 60 Milliarden Euro ab März 2015, das ab April
2016 auf 80 Milliarden Euro erhöht wurde (vgl. siebter Erwägungsgrund des
Beschlusses vom 4. März 2015 sowie dritter Erwägungsgrund des Beschlusses
vom 18. April 2016) und von April 2017 bis Ende Dezember 2017 erneut auf 60
Milliarden Euro reduziert wurde. Hieraus resultierte ein Ankauf von Schuldtiteln
in Höhe von zunächst 780 Milliarden Euro bis einschließlich März 201[6], sodann
weiteren 960 Milliarden Euro bis einschließlich März 2017 und schließlich
weiteren 120 Milliarden Euro von April bis Mai 2017, nachdem das monatliche
Ankaufvolumen des APP
[Or. 5] ab April 2017 wieder auf 60 Milliarden Euro
reduziert worden war3. Daraus ergibt sich ein Gesamtvolumen des APP von 1 860
Milliarden Euro bis Ende Mai 2017. Der größte Teil entfiel dabei auf Ankäufe im
Rahmen des PSPP: Am 12. Mai 2017 hielt das Eurosystem im Rahmen des PSPP
Aktiva in Höhe von 1 534,8 Milliarden Euro4.
7.
Was die auf den Ankauf im Rahmen des PSPP anwendbaren Regelungen
angeht, ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses vom 4. März 2015 in
Verbindung mit Art. 1 Nr. 3 des Beschlusses vom 18. April 2016 über die im
Rahmen des PSPP vorzunehmende Portfolioallokation, dass Staatsanleihen und
Anleihen nationaler anerkannter Organe derzeit 90 % des PSPP ausmachen.
Hiervon werden 10 % durch die EZB erworben, so dass 80 % des
Gesamtvolumens des PSPP auf den Erwerb von Staatsanleihen und Anleihen
nationaler anerkannter Organe durch die nationalen Zentralbanken entfallen. Die
Verteilung der Ankäufe auf die verschiedenen Hoheitsgebiete erfolgt nach Art. 6
Abs. 2 Satz 2 des Beschlusses vom 4. März 2015 in Verbindung mit Art. 1 Nr. 4
des Beschlusses vom 18. April 2016 anhand des Schlüssels für die
Kapitalzeichnung der EZB gemäß Art. 29 der Satzung des ESZB und der EZB.
Nach Art. 5 des Beschlusses vom 4. März 2015 in Verbindung mit Art. 1 Nr. 2 des
Beschlusses vom 18. April 2016 gilt zudem eine Ankaufobergrenze pro ISIN für
marktfähige Schuldtitel sowie eine Gesamt-Ankaufobergrenze der ausstehenden
Wertpapiere eines Emittenten für alle notenbankfähigen Schuldtitel5. Aus diesen
Informationen ergibt sich somit, dass 90 % der Ankäufe im Rahmen des PSPP mit
Anleihen nationaler Emittenten erfüllt werden. Innerhalb dieser 90 % werden
Anleihen aus den verschiedenen Hoheitsgebieten der Emittenten entsprechend
dem EZB-Kapitalschlüssel erworben. Diese Ankäufe werden
[Or. 6] überwiegend
3
Pressemitteilung der EZB vom 8. Dezember 2016.
4
Vgl. Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverfassungsgerichts, Rechtssache C-493/17,
Rn. 82.
5
A.a.O., Rn. 83.
4
WEISS U. A.
durch die jeweiligen nationalen Zentralbanken durchgeführt und, bezogen auf das
Gesamtvolumen des PSPP, zu 10 % durch die EZB.
8.
In Bezug auf die Ziele des PSPP heißt es in der bereits genannten
Pressemitteilung vom 22. Januar 2015, dass das erweiterte Programm zum Ankauf
von Vermögenswerten, einschließlich des PSPP, „[i]n einem Umfeld, in dem die
Leitzinsen der EZB ihre Untergrenze erreicht haben, monetäre Anreize für die
Wirtschaft [schafft]“. In diesem Sinne bewirke das Programm „eine weitere
Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen, so dass Unternehmen
und private Haushalte günstiger Finanzmittel aufnehmen können. Dies stützt
tendenziell die Investitionen und den Konsum, was letztendlich dazu beiträgt, dass
sich die Teuerungsraten wieder dem Niveau von 2 % annähern“. In der
Pressemitteilung wird ferner ausgeführt, dass der EZB-Rat „[entschlossen ist],
sein Ziel von Preisstabilität in einem beispiellosen wirtschaftlichen und
finanziellen Umfeld zu erreichen“, wobei sichergestellt sei, dass „[d]ie
eingesetzten Instrumente … in der derzeitigen Situation angemessen [sind] und …
vollständig im Einklang mit den EU-Verträgen [stehen]“. Schließlich wird in der
Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass, was die zusätzlichen Ankäufe von
Vermögenswerten betreffe, der EZB-Rat „die Kontrolle über sämtliche
Gestaltungsmerkmale des Programms [behält]. Die EZB übernimmt die
Koordination der Ankäufe und wahrt somit die Einheitlichkeit der Geldpolitik des
Eurosystems“, unbeschadet eines dezentralen Ansatzes bei der Umsetzung auf der
Ebene des Eurosystems, „um seine Ressourcen zu mobilisieren“6.
9.
Die Einführung des APP und insbesondere des PSPP führten zur Einleitung
mehrerer Verfahren beim deutschen Bundesverfassungsgericht, in denen es darum
ging, die von der EZB in diesem Kontext eingeführten Programme für
verfassungswidrig
erklären
zu
lassen.
Die
Beschwerdeführer
des
Ausgangsverfahrens führen insbesondere aus, dass das PSPP
[Or. 7] gegen das in
Art. 123 AEUV verankerte Verbot monetärer Staatsfinanzierung und das Prinzip
der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1 EUV in Verbindung mit
Art. 119 und Art. 127 ff. AEUV verstoße. Die Beschwerdeführer rügen ferner,
dass das APP in das Budgetrecht des Deutschen Bundestags eingreife.
II – Vom vorlegenden Gericht vorgelegte Fragen
10. Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht das
Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Verstößt der Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4.
März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen
Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/10) in der Fassung des Beschlusses
(EU) 2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 zur
Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von
6
https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2015/html/pr150122_1.de.html.
5
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/33),
des Beschlusses (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 18. April
2016 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum
Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten
(EZB/2016/8) sowie des Beschlusses (EU) 2016/1041 der Europäischen
Zentralbank vom 22. Juni 2016 über die Notenbankfähigkeit der von der
Hellenischen Republik begebenen oder in vollem Umfang garantierten
marktfähigen Schuldtitel und zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2015/300
(EZB/2016/18) beziehungsweise die Art und Weise seiner Ausführung gegen
Artikel 123 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union?
Verstößt es insbesondere gegen Artikel 123 Absatz 1 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union, wenn im Rahmen des Programms zum
Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten
(PSPP) [Or. 8]
a)
Einzelheiten der Ankäufe in einer Art und Weise mitgeteilt werden, die
auf den Märkten die faktische Gewissheit begründet, dass das
Eurosystem von den Mitgliedstaaten zu emittierende Anleihen teilweise
erwerben wird?
b)
auch nachträglich keine Einzelheiten über die Einhaltung von
Mindestfristen zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem
Primärmarkt und seinem Ankauf auf dem Sekundärmarkt bekannt
gegeben werden, so dass insoweit eine gerichtliche Kontrolle nicht
möglich ist?
c)
sämtliche erworbenen Anleihen nicht wieder verkauft, sondern bis zur
Endfälligkeit gehalten und damit dem Markt entzogen werden?
d)
das Eurosystem nominal marktfähige Schuldtitel mit negativer
Endfälligkeitsrendite erwirbt?
2. Verstößt der unter 1. genannte Beschluss jedenfalls dann gegen Artikel 123
AEUV, wenn seine weitere Durchführung angesichts veränderter Bedingungen an
den Finanzmärkten, insbesondere infolge einer Verknappung ankaufbarer
Schuldtitel eine stetige Lockerung der ursprünglich geltenden Ankaufregeln
erfordert und die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten
Beschränkungen für ein Anleihekaufprogramm, wie es das PSPP darstellt, ihre
Wirkung verlieren?
3.
Verstößt der unter 1. genannte Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen
Zentralbank vom 4. März 2015 in seiner aktuellen Fassung gegen Artikel 119 und
Artikel 127 Absatz 1 und Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union sowie Artikel 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, weil
er über das in diesen Vorschriften geregelte Mandat der Europäischen
6
WEISS U. A.
Zentralbank zur Währungspolitik hinausgeht und deshalb in die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten übergreift?
Ergibt sich eine Überschreitung des Mandats der Europäischen Zentralbank
insbesondere daraus, dass [Or. 9]
a)
der unter 1. genannte Beschluss aufgrund des Volumens des PSPP, das
am 12. Mai 2017 1 534,8 Milliarden Euro betrug, die
Refinanzierungsbedingungen
der
Mitgliedstaaten
erheblich
beeinflusst?
b)
der unter 1. genannte Beschluss in Ansehung der unter a) genannten
Verbesserung der Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten
und deren Auswirkungen auf die Geschäftsbanken nicht nur mittelbare
wirtschaftspolitische Folgen hat, sondern seine objektiv feststellbaren
Auswirkungen eine wirtschaftspolitische Zielsetzung des Programms
zumindest als gleichrangig neben der währungspolitischen Zielsetzung
nahe legen?
c)
der
unter
1.
genannte
Beschluss
wegen
seiner
starken
wirtschaftspolitischen Auswirkungen gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit verstößt?
d)
der unter 1. genannte Beschluss mangels spezifischer Begründung
während des mehr als zwei Jahre andauernden Vollzugs nicht auf
seine fortdauernde Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin
überprüft werden kann?
4. Verstößt der unter 1. genannte Beschluss jedenfalls deswegen gegen Artikel 119
und Artikel 127 Absatz 1 und Absatz 2 AEUV sowie Artikel 17 bis 24 des
Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der
Europäischen Zentralbank, weil sein Volumen und sein mehr als zwei Jahre
dauernder Vollzug und die sich hieraus ergebenden wirtschaftspolitischen
Auswirkungen zu einer veränderten Betrachtung der Erforderlichkeit und
Verhältnismäßigkeit des PSPP Anlass geben und er sich dadurch ab einem
bestimmten Zeitpunkt als eine Überschreitung des währungspolitischen Mandats
der Europäischen Zentralbank darstellt? [Or. 10]
5. Verstößt die im unter 1. genannten Beschluss möglicherweise angelegte
unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der Zentralregierungen
und ihnen gleich gestellter Emittenten zwischen den nationalen Zentralbanken des
Eurosystems gegen Artikel 123 und Artikel 125 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union sowie gegen Artikel 4 Absatz 2 des
Vertrags über die Europäische Union, wenn dadurch eine Rekapitalisierung
nationaler Zentralbanken mit Haushaltsmitteln erforderlich werden kann?
11. Um
eine
Prüfung
zu
ermöglichen,
die
sich
auf
die
im
Vorabentscheidungsersuchen
aufgeworfenen
grundlegenden
Probleme
7
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
konzentriert,
lassen
sich
unserer
Ansicht
nach
drei
Hauptfragen
herauskristallisieren. Die erste Frage betrifft die Vereinbarkeit des PSPP mit dem
Verbot der monetären Finanzierung (Art. 123 AEUV) und umfasst die ersten
beiden Fragen des Bundesverfassungsgerichts. Als Zweites werden Zweifel
hinsichtlich der Beachtung der Grenzen des währungspolitischen Mandats der
EZB angeführt, bei deren Überschreitung eine rechtswidrige Einschränkung der
nationalen Zuständigkeiten im Bereich der Wirtschaftspolitik vorläge (Art. 119
und 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung
des ESZB und der EZB). Die dritte und die vierte Frage befassen sich mit diesem
Thema. Schließlich wirft das Bundesverfassungsgericht in seiner fünften Frage
das Problem auf, dass beim PSPP das Risiko unter den nationalen Zentralbanken
aufgeteilt werde, was angesichts der Beachtung der vom Unionsrecht (Art. 4
Abs. 2 EUV) anerkannten Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten sowie
angesichts des Grundsatzes, dass ein Mitgliedstaat keine finanziellen
Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten übernehmen dürfe (Art. 125 AEUV),
problematisch werden könne.
III – Rechtliche Würdigung
A.
Zur Frage des Vorliegens einer monetären Finanzierung
i)
Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts [Or. 11]
12. Die erste und die zweite Frage, die das Bundesverfassungsgericht dem
Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt hat,
betreffen das Problem der monetären Finanzierung im Rahmen des PSPP. Im
Kontext der vom vorlegenden Gericht vorgelegten Fragen kommt der
Unterscheidung zwischen Ankäufen auf dem Primärmarkt und Ankäufen auf dem
Sekundärmarkt große Bedeutung für die Zwecke der Überprüfung der Einhaltung
von Art. 123 AEUV zu. In der ersten vom Bundesverfassungsgericht vorgelegten
Frage (Buchst. a) geht es darum, dass Einzelheiten der Ankäufe im Rahmen des
PSPP mitgeteilt werden, was nach Ansicht dieses Gerichts auf den Märkten die
Gewissheit begründet hat, dass das Eurosystem von den Mitgliedstaaten zu
emittierende Anleihen teilweise erwerben werde.
13. Diese Frage betrifft die bereits genannten Regeln und Modalitäten des PSPP,
wobei sie nicht nur das Gesamtvolumen der Ankäufe von Anleihen, die von
Zentralregierungen oder anerkannten Organen begeben werden, durch das
Eurosystem im Blick hat, sondern auch den Umstand, dass der Prozentsatz der
Ankäufe im Rahmen des PSPP, der auf die Zentralbanken entfällt, und innerhalb
dieses Prozentsatzes die Verteilung unter den jeweiligen Zentralbanken nach dem
betreffenden Kapitalschlüssel bekannt sind. Nach den Ausführungen des
Bundesverfassungsgerichts „[lässt sich a]us den ausdrücklich angekündigten
Modalitäten … etwa ableiten, dass monatlich Anleihen deutscher Emittenten in
8
WEISS U. A.
einem Wert erworben werden, der 23,7 % des monatlichen Ankaufvolumens des
PSPP entspricht“7.
14. Zudem konnten, so das Bundesverfassungsgericht, „[b]ereits einige Monate
nach Beginn des PSPP im März 2015 … Marktteilnehmer … aus der Praxis der
Anleihekäufe den Anteil des PSPP am [APP] sowie das Verhältnis von
Staatsanleihen
und
Anleihen
öffentlicher
Institutionen
innerhalb
der
Mitgliedstaaten erkennen und so das monatliche Ankaufvolumen des PSPP und
den Anteil nationaler Anleihen hieran beziffern“8. Unbeschadet einiger saisonaler
Schwankungen
[Or. 12] hätten sich die Ankäufe im Durchschnitt im anvisierten
Rahmen gehalten: In der Zeit zwischen März 2015 und März 2016 seien monatlich
durchschnittlich Anleihen in einem Umfang von 60,475 Milliarden Euro erworben
worden. Der Anteil des PSPP am APP habe von Beginn an stets etwa 80 %
betragen. Aus diesen Informationen „lässt sich [somit] der Euro-Betrag der
Ankäufe durch die nationalen Zentralbanken ermitteln: 80 % des monatlichen
Volumens von 60 Milliarden Euro sind 48 Milliarden Euro“. Für deutsche
Anleihen, deren Anteil rechnerisch 23,6951 % betragen müsse, führt das
Bundesverfassungsgericht weiter aus, dass „sich aus den angekündigten
Informationen ein monatliches Volumen von 11,37 Milliarden Euro [ergibt]. In
der Zeit zwischen März 2015 und März 2016 entsprach der tatsächliche Ankauf
im Durchschnitt diesem Volumen“9. Ferner sei „[d]er Anteil des PSPP … im
Wesentlichen auch stabil geblieben, nachdem das Ankaufvolumen des [APP] im
April 2016 auf 80 Milliarden Euro monatlich erhöht wurde: Das monatliche
Gesamtankaufvolumen des [APP] betrug zwischen 85,1 Milliarden Euro und
85,4 Milliarden Euro mit Ausschlägen im Juli 2016 (80,5 Milliarden Euro) und
August 2016 (60,5 Milliarden Euro). Der Anteil des PSPP am [APP] betrug
zunächst 93,3 %, sank dann auf 82 - 85 % und hat sich bei etwa 80 % des [APP]
eingependelt“10.
15. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts lassen sich sogar „detaillierte
Rückschlüsse darauf ziehen, welche konkrete Anleihe, die die PSPP-Kriterien
erfüllt, innerhalb des zur Verfügung stehenden Volumens und innerhalb der
Ankaufobergrenze – 33 % je Emittent – erworben wird. Hinsichtlich der Kriterien,
die die Anleihen aufweisen – insbesondere Laufzeit und Rendite – verfügt der
Markt über weitreichende Informationen, da Analysten die Renditen der
verschiedenen Anleihen der staatlichen Emittenten mit unterschiedlichen
Laufzeiten sowie das Marktvolumen dieser Anleihen untersuchen“11. Es könne
daher davon ausgegangen werden, dass „die Gesamtvolumina der sich auf dem
7
A.a.O., Rn. 85.
8
A.a.O., Rn. 86.
9
A.a.O., Rn. 87.
10
A.a.O., Rn. 88.
11
A.a.O., Rn. 89.
9
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Markt befindlichen Anleihen und deren Charakteristika bekannt sind“.
[Or. 13] Es
sei indes „[e]ntscheidend …, dass das Angebot an PSPP-fähigen Anleihen knapp
ist, da diese eine Laufzeit von zwei bis unter 31 Jahren und eine Mindestrendite
von -0,4 % aufweisen müssen (ab Januar 2017 wurde das Spektrum auf Anleihen
mit einer Laufzeit zwischen einem und 31 Jahren erweitert)“12. Jedoch könnte sich
angesichts
„der Knappheit an programmfähigen Anleihen … die
Wahrscheinlichkeit des Erwerbs bis zur faktischen Gewissheit verdichten, zumal
sich die Ankaufobergrenze – 33 % je Emission – nicht nach dem auf dem
Sekundärmarkt befindlichen Teil einer Emission, sondern nach dem
Gesamtvolumen einer Emission, identifiziert nach ISIN … richtet“13.
16. Angesichts dieser Rahmenbedingungen „könnte bei Emittenten und den
übrigen Marktteilnehmern die sichere Erwartung bestehen, dass eine Anleihe bis
zur Ankaufobergrenze erworben wird“14. Damit stelle sich die Frage, ob hierin
eine Verfälschung der Marktbedingungen liege, die den Anreiz für Staaten
mindere, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen. Gleichermaßen wichtig ist
der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass „[d]ies … möglicherweise nicht
nur dann angenommen werden [könnte], wenn absolut sicher ist, dass eine
bestimmte Anleihe durch das Eurosystem erworben wird, sondern bereits dann,
wenn
dies
hinreichend
wahrscheinlich
ist“15.
Nach
Ansicht
des
Bundesverfassungsgerichts dürfte es ferner insofern „auch nicht darauf
ankommen, ob die erforderliche Sicherheit für alle Anleihen besteht. Es dürfte
vielmehr genügen, dass sich ein Mitgliedstaat hinreichend sicher sein kann, dass
von ihm begebene Anleihen zu einem bestimmten Teil erworben werden. Art. 123
Abs. 1 AEUV verbietet nicht nur die Finanzierung aller Staatshaushalte, sondern
bereits diejenige eines einzigen Staates“16.
[Or. 14]
17. Die Marktteilnehmer hätten zwar keine rechtliche Gewissheit, dass eine
bestimmte nach einer ISIN identifizierbare Emission von Anleihen eines
Mitgliedstaats der Eurozone durch das Eurosystem aufgekauft werde. Aus den
ausdrücklich angekündigten Modalitäten des PSPP und den Modalitäten, die sich
aus der Praxis der Anleihekäufe ableiten ließen, könnte für die Marktteilnehmer
jedoch eine hinreichende faktische Gewissheit bestehen, dass emittierte
Staatsanleihen vom Eurosystem auch erworben würden17. Nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts ist nicht das Bestehen einer rechtlichen Verpflichtung
relevant, „sondern der tatsächliche Erwerb von Schuldtiteln“18. Laut dem
12
A.a.O., Rn. 89.
13
A.a.O., Rn. 90.
14
A.a.O., Rn. 91.
15
A.a.O.
16
A.a.O.
17
A.a.O., Rn. 81.
18
A.a.O., Rn. 92.
10
WEISS U. A.
Verfassungsgericht „stellt sich daher die Frage, ob sich eine faktische Gewissheit
trotz des Fehlens einer rechtlichen Verpflichtung zum Ankauf von Anleihen aus
den … dargelegten Rahmenbedingungen ergibt mit der Folge, dass das
Tätigwerden des Eurosystems im Rahmen des PSPP praktisch die gleiche
Wirkung wie der unmittelbare Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-
rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten selbst hat“19.
Um diese Frage zu klären, „kommt es darauf an, ob Marktteilnehmer, die
Staatsanleihen auf dem Primärmarkt erwerben, letztlich die Gewissheit haben,
dass das Eurosystem diese Anleihen binnen eines überschaubaren Zeitraums und
unter Bedingungen ankauft, die es ihnen ermöglich[en], gleich Mittelspersonen
des Eurosystems für den unmittelbaren Erwerb dieser Anleihen zu agieren“20.
18. Schließlich führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass der Ankauf
nominaler marktfähiger Schuldtitel mit negativer Endfälligkeitsrendite durch das
Eurosystem ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV indiziere. Nach Art. 3
Abs. 5 des PSPP-Beschlusses sei der Ankauf nominaler marktfähiger Schuldtitel
mit negativer Endfälligkeitsrendite über dem Zinssatz für die Einlagefazilität (-0,4
%) zulässig und seit dem 1. Januar 2017 seien Ankäufe von Wertpapieren mit
einer Endfälligkeitsrendite unterhalb dieses Zinssatzes grundsätzlich zugelassen.
Vor diesem Hintergrund
[Or. 15] kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem
Schluss, dass sich Mitgliedstaaten, die negativ rentierliche Anleihen platzierten,
„über die Anleihen nicht nur rückzahlbares Geld am Kapitalmarkt leihen, sondern
aufgrund der Negativrendite auch nominell Gewinne erzielen“ und dass, da beim
PSPP bei Emittenten und übrigen Marktteilnehmern möglicherweise die
gesicherte Erwartung bestehe, dass Staatsanleihen bis zur Ankaufobergrenze
erworben würden, „davon [ausgegangen werden kann], dass die negativen
Zinssätze an die auf dem Sekundärmarkt ankaufenden nationalen Zentralbanken
weitergereicht werden, der von den Mitgliedstaaten durch Ausgabe negativ
rentierlicher Anleihen erzielte Gewinn mithin von den nationalen Zentralbanken
finanziert wird“. Das Ziel von Art. 123 AEUV würde dadurch konterkariert, weil
dieses Vorgehen aufgrund der Negativverzinsung „die nationalen Haushalte
entlastet und erhebliche Anreize zur Aufnahme von Krediten setzt“.
ii)
Vom Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache
Gauweiler festgelegte Bedingungen
19. Auch wenn die vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfenen Fragen eine
sorgfältige Abwägung und Prüfung verdienen, ist bereits an dieser Stelle darauf
hinzuweisen, dass die Vorgaben, nach denen im Rahmen des PSPP die Ankäufe
von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt erfolgen, in vollem Umfang die
Bedingungen und Regeln erfüllen, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union, insbesondere im Urteil Gauweiler (C-62/14), festgelegt sind.
19
A.a.O.
20
A.a.O.
11
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
20. In der Rechtssache Gauweiler ging es um ein Programm der EZB mit der
Bezeichnung
„Gelpolitische
Outright-Geschäfte“
(Outright
Monetary
Transactions – OMT), über das die EZB auf dem Sekundärmarkt staatliche
Anleihen der Mitgliedstaaten des Euroraums, die einem Programm der
Europäischen
Finanzstabilitätsfazilität
bzw.
des
Europäischen
Stabilitätsmechanismus (European Financial Stability Facility/European Stability
Mechanism – EFSF/ESM) unterlagen, anzukaufen beabsichtigte. Dieses
Programm (OMT-Programm) wies somit ebenfalls besondere Merkmale auf, die
dazu bestimmt waren, in einem Kontext, in dem die Spekulationen der
Finanzmärkte über die Realisierbarkeit der einheitlichen Währung zu einer
wesentlichen und unverhältnismäßigen Erhöhung der Zinssätze der staatlichen
Anleihen von Staaten in besonderen wirtschaftlichen und finanziellen
Schwierigkeiten
geführt
hat,
Blockierungen
geldpolitischer
Transmissionsmechanismen
[Or. 16] zu beseitigen und die Einheitlichkeit der
Geldpolitik zu wahren. Auch wenn das OMT-Programm einige Besonderheiten
gegenüber den Unterprogrammen der EZB im Rahmen des APP aufweist,
insbesondere im Hinblick auf seine Selektivität, sind die Bedingungen, die der
Gerichtshof in der Rechtssache Gauweiler für den Ankauf von öffentlichen
Schuldtiteln
auf
dem
Sekundärmarkt
festgelegt
hat,
wie
das
Bundesverfassungsgericht anerkennt, eindeutig auf den vorliegenden Fall des
PSPP anwendbar.
21. Wie im Urteil Gauweiler ausgeführt, geht aus dem Wortlaut von Art. 123
Abs. 1 AEUV hervor, dass diese Bestimmung der EZB und den Zentralbanken der
Mitgliedstaaten
verbietet,
öffentlich-rechtlichen
Körperschaften
und
Einrichtungen der Union und der Mitgliedstaaten Überziehungs- oder andere
Kreditfazilitäten zu gewähren oder unmittelbar von ihnen Schuldtitel zu
erwerben21. Folglich „verbietet diese Bestimmung jede finanzielle Unterstützung
des ESZB zugunsten eines Mitgliedstaats …, ohne indessen in allgemeiner Weise
die für das ESZB bestehende Möglichkeit auszuschließen, von Gläubigern eines
solchen Staates Schuldtitel zu erwerben, die dieser Staat zuvor ausgegeben hat“22.
22. So gestatte Art. 18 Abs. 1 der Satzung des ESZB und der EZB „dem ESZB,
zur Erreichung seiner Ziele und zur Erfüllung seiner Aufgaben auf den
Finanzmärkten tätig zu werden, indem es u. a. börsengängige Wertpapiere, zu
denen Staatsanleihen gehören, endgültig kauft und verkauft, ohne dass diese
Ermächtigung an besondere Bedingungen geknüpft ist, sofern nicht
[Or. 17] der
Charakter von Offenmarktgeschäften als solcher missachtet wird“23. Gleichwohl
könne das ESZB „nicht rechtmäßig Staatsanleihen an den Sekundärmärkten unter
Voraussetzungen erwerben, die seinem Tätigwerden in der Praxis die gleiche
Wirkung wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-
21
Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler (C-62/14, ECLI:EU:C:2015:400), Rn. 94.
22
A.a.O., Rn. 95.
23
A.a.O., Rn. 96.
12
WEISS U. A.
rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten verleihen, und
auf diese Weise die Wirksamkeit des in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten
Verbots in Frage stellen“24.
23. Zur Klärung der Frage, welche Formen des Ankaufs von Staatsanleihen mit
dieser Bestimmung vereinbar sind, sei ferner auf den Zweck dieser Bestimmung
abzustellen25. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
sich aus den Vorarbeiten für den Maastrichter Vertrag (durch den das Verbot der
monetären Finanzierung in das Unionsrecht eingefügt wurde) ergebe, dass
Art. 123 AEUV „die Mitgliedstaaten dazu anhalten soll, eine gesunde
Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre
Finanzierung öffentlicher Defizite oder Privilegien der öffentlichen Hand auf den
Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der
Mitgliedstaaten führen“26. Ankäufe am Sekundärmarkt dürften nämlich nicht
eingesetzt werden, um das mit Art. 123 AEUV verfolgte Ziel zu umgehen27.
Folglich müsse „die EZB, … wenn sie Staatsanleihen an den Sekundärmärkten
erwirbt, ihr Tätigwerden mit hinreichenden Garantien versehen, um
sicherzustellen, dass es mit dem in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten Verbot der
monetären Finanzierung in Einklang steht“28.
24. Staatsanleihen dürften im Rahmen des OMT-Programms nicht unmittelbar
von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der
Mitgliedstaaten, sondern nur mittelbar an den Sekundärmärkten erworben werden.
[Or. 18] Das Tätigwerden des ESZB im Rahmen eines derartigen Programms
„kann daher nicht einer finanziellen Unterstützungsmaßnahme für einen
Mitgliedstaat gleichgestellt werden“29. Das Tätigwerden des ESZB könnte jedoch
„in der Praxis die gleiche Wirkung wie der unmittelbare Erwerb von
Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen
der Mitgliedstaaten haben …, wenn die Wirtschaftsteilnehmer, die
möglicherweise Staatsanleihen auf dem Primärmarkt erwerben, die Gewissheit
hätten, dass das ESZB diese Anleihen binnen eines Zeitraums und unter
Bedingungen ankaufen würde, die es diesen Wirtschaftsteilnehmern ermöglichten,
faktisch als Mittelspersonen des ESZB für den unmittelbaren Erwerb dieser
Anleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen des
betreffenden Mitgliedstaats zu agieren“30.
24
A.a.O., Rn. 97.
25
A.a.O., Rn. 98.
26
A.a.O., Rn. 100.
27
A.a.O., Rn. 101.
28
A.a.O., Rn. 102.
29
A.a.O., Rn. 103.
30
A.a.O., Rn. 104.
13
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
25. In der Rechtssache Gauweiler war der Gerichtshof gerade überzeugt, dass
die Bedingungen des OMT-Programms dessen Vereinbarkeit mit Art. 123 AEUV
gewährleisteten. Die Merkmale des Programms, die die Einhaltung dieser
Bestimmung gewährleisteten, waren namentlich die Verantwortung des EZB-Rats
für die Entscheidung über den Umfang, den Beginn, die Fortsetzung und die
Aussetzung der Interventionen an den Sekundärmärkten, die Einhaltung einer
Mindestfrist zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und
seinem Ankauf an den Sekundärmärkten sowie der Ausschluss einer vorherigen
Ankündigung seiner Entscheidung, solche Ankäufe vorzunehmen, oder des
Volumens der geplanten Ankäufe31.
26. Ferner würde mit einem Programm zum Ankauf von Staatsanleihen das Ziel
von Art. 123 Abs. 1 AEUV umgangen, „wenn es geeignet wäre, den betreffenden
Mitgliedstaaten den Anreiz zu nehmen, eine gesunde Haushaltspolitik zu
verfolgen“32. Im Übrigen „beinhaltet die Geldpolitik fortlaufend, dass auf die
Zinssätze und die Refinanzierungsbedingungen der Banken eingewirkt wird,
[Or. 19] was zwangsläufig Konsequenzen für die Finanzierungsbedingungen des
Haushaltsdefizits der Mitgliedstaaten hat“33. Jedenfalls hat der Gerichtshof im
Urteil Gauweiler festgestellt, dass es angesichts der Merkmale des
OMT-Programms als ausgeschlossen angesehen werden könne, dass den
Mitgliedstaaten der Anreiz zur Verfolgung einer gesunden Haushaltspolitik
genommen werde34.
27. Diese Begrenzung des Tätigwerdens des ESZB, so der Gerichtshof,
„bedeutet zum einen, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer
Haushaltspolitik nicht auf die Gewissheit stützen können, dass ihre Staatsanleihen
künftig vom ESZB an den Sekundärmärkten angekauft werden …“35. Jedenfalls
würden die Auswirkungen des OMT-Programms auf den Anreiz, eine gesunde
Haushaltspolitik zu verfolgen, „durch die für das ESZB bestehende Möglichkeit
beschränkt, die erworbenen Anleihen jederzeit wieder zu verkaufen“. In diesem
Rahmen seien die „Folgen, die daraus entstehen, dass diese Anleihen vom Markt
genommen werden, potenziell vorübergehender Art“36.
28. Der Gerichtshof führt insoweit weiter aus, dass der Umstand „[d]ass das
ESZB auch die Möglichkeit hat, die erworbenen Anleihen bis zum Eintritt ihrer
Fälligkeit zu behalten, … insoweit keine ausschlaggebende Rolle [spielt], weil
diese Möglichkeit voraussetzt, dass eine solche Handlungsweise zur
31
A.a.O., Rn. 106.
32
A.a.O., Rn. 109.
33
A.a.O., Rn. 110.
34
A.a.O., Rn. 111.
35
A.a.O., Rn. 113.
36
A.a.O., Rn. 117.
14
WEISS U. A.
Verwirklichung der angestrebten Ziele erforderlich ist, und jedenfalls den
beteiligten Wirtschaftsteilnehmern nicht die Gewissheit gewährt, dass das ESZB
von dieser Option Gebrauch machen wird“. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen,
dass eine solche Vorgehensweise durch Art. 18 Abs. 1 der Satzung des ESZB und
der EZB keineswegs ausgeschlossen werde und keinen Verzicht darauf bedeute,
dass der Mitgliedstaat, der die Anleihe ausgegeben habe, bei Eintritt ihrer
Fälligkeit seine Schuld begleiche37. Insgesamt kommt der Gerichtshof im Urteil
Gauweiler zu dem Schluss,
[Or. 20] dass durch das OMT-Programm kein Anreiz
für die betreffenden Mitgliedstaaten geschaffen werde, eine weniger gesunde
Haushaltspolitik zu verfolgen, und dass Art. 123 Abs. 1 AEUV es dem ESZB
somit nicht verbiete, dieses Programm zu beschließen38.
iii)
Würdigung
29. Misst man das PSPP an den Bedingungen, die der Gerichtshof für die
Vereinbarkeit eines Programms zum Ankauf staatlicher Anleihen am
Sekundärmarkt mit den entsprechenden Bestimmungen aufgestellt hat, lässt sich
feststellen, dass die vom Gerichtshof zur Vermeidung eines Verstoßes gegen
Art. 123 AEUV festgelegten Regeln im vorliegenden Fall des PSPP eingehalten
wurden. Die EZB hat sichergestellt, dass das fragliche Programm mit
hinreichenden Garantien versehen war, um einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV
zu vermeiden. Nach der im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen
angeführten Stellungnahme der EZB finden im Rahmen des PSPP „Ankäufe
ausschließlich am Sekundärmarkt statt, der EZB-Rat sei zuständig, über Umfang,
Beginn, Fortsetzung und Aussetzung der Ankäufe zu entscheiden. Es gelte eine
Sperrfrist, Dauer und Umfang des Programms seien begrenzt und erfolgten
solange, bis das Inflationsziel erreicht sei; auch bestünden Ankaufobergrenzen.
Daneben existierten nichtöffentliche Sicherungen“39.
30. Was insbesondere die in Art. 4 Abs. 1 des Beschlusses (EU) 2015/774 der
Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von
Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (Beschluss über
das PSPP) vorgesehene sogenannte „Sperrfrist“ (oder „black out period“) angeht,
wurde deren genaue Dauer in nichtöffentlichen Leitlinien der EZB festgelegt. Wie
die EZB in ihrer Stellungnahme ausführt, würde die Veröffentlichung dieser
Information offenkundig dem Zweck der Sperrfrist, die Bildung eines
Marktpreises zu ermöglichen, zuwiderlaufen. In diesem Sinne überzeugt der
Standpunkt nicht, dass der Umstand, dass keine Informationen über die
Einhaltung von
[Or. 21] Mindestfristen zwischen der Ausgabe der Schuldtitel auf
dem Primärmarkt und ihrem Ankauf auf den Sekundärmärkten bekannt gegeben
würden, auch nicht nachträglich, einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV indiziere.
37
A.a.O., Rn. 118.
38
A.a.O., Rn. 121.
39
[Vgl. Wiedergabe der Stellungnahme der EZB,] Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 37.
15
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Unbeschadet der Notwendigkeit, die Einhaltung der Sperrfrist, wie sie im
Beschluss über das PSPP vorgesehen ist, tatsächlich zu garantieren, kann die
nachträgliche Veröffentlichung von Informationen über ihre Einhaltung die
Gefahr einer Schwächung der Sperrfrist mit sich bringen, vor allem, wenn es
möglich ist, diesen Informationen Angaben zu entnehmen, anhand deren sich
bestimmte Muster feststellen lassen, was das Eingreifen des Eurosystems auf den
Sekundärmärkten betrifft. Die Veröffentlichung von Informationen würde somit
die Gefahr mit sich bringen, dass gegen Art. 123 AEUV verstoßen würde, und
nicht umgekehrt.
31. Die EZB war bei ihrem Vorgehen generell bestrebt, die Marktneutralität zu
gewährleisten, indem sie Höchstgrenzen für die Ankäufe von Schuldtiteln des
öffentlichen Sektors pro Emission und pro Emittent (wie unten näher ausgeführt)
festgelegt hat. Der Marktpreis von PSPP-fähigen Wertpapieren des öffentlichen
Sektors wird sowohl am Primärmarkt als auch an den Sekundärmärkten für jede
Laufzeit
durch
mehrere
Faktoren
bestimmt,
unter
anderem
durch
makroökonomische
Entwicklungen,
eine
sich
verändernde
Nachfrage
unterschiedlicher Investorengruppen, derzeitige und erwartete EZB-Leitzinssätze
sowie derzeitige und erwartete Ankäufe durch die Zentralbanken des
Eurosystems. Wie die EZB ausführt, zielt sie beim Kauf von PSPP-fähigen
Wertpapieren nicht auf ein bestimmtes Kreditrisiko ab. Sie sei kein Preissetzer,
sondern ein Preisnehmer40.
32. Relevant sind ferner die Ausführungen der EZB, wonach sich dieses Organ
nicht
dahingehend
geäußert
habe,
dass
es
beabsichtige,
erworbene
Vermögenswerte bis zur Endfälligkeit zu halten. Die EZB könne erworbene
Vermögenswerte vielmehr jederzeit verkaufen. Aus dem Umstand, dass einige
[Or. 22] im Rahmen des APP erworbene Vermögenswerte ihr Fälligkeitsdatum
bereits erreicht hätten, lasse sich keine rechtliche Verpflichtung ableiten, alle
bereits erworbenen und in der Zukunft noch zu erwerbenden Vermögenswerte bis
zum jeweiligen Fälligkeitsdatum zu halten41. Was diese Frage angeht, ist somit der
Schluss des Bundesverfassungsgerichts nicht zwingend, dass der Gerichtshof im
Urteil Gauweiler davon ausgegangen sei, dass erworbene Schuldtitel „nur
ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden [dürfen]“42. Der Gerichtshof
führt in diesem Urteil nämlich erstens aus, dass die Auswirkungen, die ein
Programm wie das in der Pressemitteilung angekündigte OMT-Programm auf den
Anreiz habe, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen, „auch durch die für das
ESZB bestehende Möglichkeit beschränkt [werden], die erworbenen Anleihen
jederzeit wieder zu verkaufen“, weshalb „die Folgen, die daraus entstehen, dass
diese Anleihen vom Markt genommen werden, potenziell vorübergehender Art
40
Vgl. Wiedergabe der Stellungnahme der EZB, Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 35.
41
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 33.
42
A.a.O., Rn. 78.
16
WEISS U. A.
sind“43. Zweitens hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Tatsache, dass das
ESZB „auch die Möglichkeit hat, die erworbenen Anleihen bis zum Eintritt ihrer
Fälligkeit zu behalten, … insoweit keine ausschlaggebende Rolle [spielt], weil
diese Möglichkeit voraussetzt, dass eine solche Handlungsweise zur
Verwirklichung der angestrebten Ziele erforderlich ist, und jedenfalls den
beteiligten Wirtschaftsteilnehmern nicht die Gewissheit gewährt, dass das ESZB
von dieser Option Gebrauch machen wird“. Schließlich sei darauf hinzuweisen,
dass „eine solche Vorgehensweise durch Art. 18 Abs. 1 des Protokolls über das
ESZB und die EZB keineswegs ausgeschlossen wird und keinen Verzicht darauf
bedeutet, dass der Mitgliedstaat, der die Anleihe ausgegeben hat, bei Eintritt ihrer
Fälligkeit seine Schuld begleicht“44.
33. Zur Möglichkeit, die im Rahmen des PSPP erworbenen Vermögenswerte bis
zu ihrer Endfälligkeit zu halten, ist ferner anzumerken, dass der EZB-Rat im
Januar 2015 beschlossen hat, die Ankäufe von Schuldtiteln durch das Eurosystem
im Rahmen des PSPP auszuweiten, und gleichzeitig angekündigt hat, dass die im
Rahmen diese Programms erworbenen Titel für Wertpapierleihgeschäfte in Frage
kämen. So
[Or. 23] sind die vom Eurosystem im Rahmen des PSPP erworbenen
Titel seit dem 2. April 2015 für Wertpapierleihgeschäfte (securities lending)
verfügbar, die in dezentralisierter Form von verschiedenen Zentralbanken
durchgeführt werden. Ziel dieser Leihgeschäfte ist es, die Liquidität der Anleihe-
und Repomärkte zu fördern45. Adressaten dieser Geschäfte sind die
Finanzinstitute, die als Intermediäre bei der Platzierung der Schuldtitel am Markt
tätig werden und die Liquidität dieser Titel auf dem Markt gewährleisten. Das
PSPP securities lending ermöglicht es so, dass selbst in dem etwaigen Fall, dass
die erworbenen Vermögenswerte bis zu ihrer Endfälligkeit gehalten werden,
währungspolitische Maßnahmen durchgeführt werden, durch die die möglichen
negativen Auswirkungen, die sich aus dem Halten der Vermögenswerte ergeben
könnten, minimiert werden können und die notwendige und reguläre Liquidität
auf den relevanten Märkten gewährleistet wird.
34. Eines der Hauptargumente des Bundesverfassungsgerichts zur Begründung
des Vorabentscheidungsersuchens besteht darin, dass bei den Finanzintermediären
angesichts der Regeln und Modalitäten des PSPP (nach Ansicht des vorlegenden
Gerichts) eine klare Erwartung hinsichtlich des Ankaufs der staatlichen
Schuldtitel durch das Eurosystem habe entstehen können, wodurch sie in der
Praxis zu reinen Intermediären im Verhältnis zwischen der Ausgabe dieser
Anleihen auf dem Primärmarkt und ihrem Ankauf durch das Eurosystem am
Sekundärmarkt würden, was dem in Art. 123 AEUV vorgesehenen Verbot
zuwiderlaufe. Dieser Punkt ist vor allem insoweit relevant, als sich die Merkmale
des PSPP von denen des OMT-Programms unterscheiden. In der Rechtssache
43
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 117.
44
A.a.O., Rn. 118.
45
https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/omt/lending/html/index.en.html.
17
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Gauweiler hat die EZB vor dem Gerichtshof klargestellt, dass das ESZB zum
einen beabsichtige, eine Mindestfrist zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf
dem Primärmarkt und seinem Ankauf an den Sekundärmärkten einzuhalten, und
dass zum anderen „eine vorherige Ankündigung seiner Entscheidung, solche
Ankäufe vorzunehmen, oder des Volumens der geplanten Ankäufe ausgeschlossen
sein soll“46. Dies war einer der Gesichtspunkte, die den Gerichtshof zu seiner
Schlussfolgerung veranlasst haben, dass sich durch die Bedingungen des
OMT-Programms verhindern lasse, dass die Emissionsbedingungen für
Staatsanleihen durch die Gewissheit
[Or. 24] verfälscht würden, dass diese
Anleihen nach ihrer Ausgabe durch das ESZB erworben würden, und so
ausgeschlossen werde, dass dieses Programms in der Praxis die gleiche Wirkung
haben könnte wie der unmittelbare Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-
rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten47.
35. Ungeachtet dessen ist anzuerkennen, dass die vorherige Festlegung des
Ankaufvolumens im Rahmen des PSPP einen entscheidenden Punkt für die
Vermeidung der Gefahr einer monetären Finanzierung darstellt, da sie einen
klaren Rahmen für das Eingreifen des Eurosystems mit bestimmten Regeln und
mengenmäßigen Beschränkungen festlegt, deren Fehlen sicherlich als potenzieller
Verstoß gegen Art. 123 AEUV angesehen würde, da in diesem Fall ein
währungspolitisches
Programm
mit
willkürlichen
und
übermäßigen
Auswirkungen vorliegen könnte, dem es allgemein an Transparenz fehlen würde.
Anders als das PSPP bezog sich das OMT-Programm „auf bestimmte Arten von
Anleihen …, die nur von Mitgliedstaaten ausgegeben worden sind, die an einem
strukturellen Anpassungsprogramm teilnehmen und erneut Zugang zum
Anleihemarkt haben“. Der Gerichtshof war daher der Ansicht, dass die EZB
faktisch „das Volumen der Staatsanleihen beschränkt [hat], die im Rahmen dieses
Programms erworben werden können, und damit die Intensität der Auswirkungen
dieses Programms auf die Finanzierungsbedingungen der Staaten des Euro-
Währungsgebiets begrenzt [hat]“48. Hingegen beschränkt sich das APP, da es der
Preisstabilität dient, nicht auf bestimmte Mitgliedstaaten des Euroraums, die an
einem strukturellen Anpassungsprogramm teilnehmen, und hat somit einen
deutlich größeren Umfang, was ebenfalls eine vorherige Festlegung des Volumens
der Ankäufe durch das Eurosystem, insbesondere im Rahmen des PSPP, ratsam
erscheinen ließ oder sogar erforderte.
36. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat insoweit im Rahmen des in der
Rechtssache Gauweiler vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens starke Kritik
am Fehlen einer vorher festgelegten quantitativen Begrenzung potenzieller
Ankäufe durch das Eurosystem im Rahmen
[Or. 25] des OMT-Programms
geäußert und den Gerichtshof eben dazu befragt, ob die fehlende Festlegung einer
46
[Urteil Gauweiler (C-62/14)], Rn. 106.
47
A.a.O., Rn. 107.
48
A.a.O., Rn. 116.
18
WEISS U. A.
quantitativen Begrenzung des Ankaufs von Staatsanleihen (Volumen), die es als
„Indiz für das Vorliegen einer monetären Finanzierung“49 ansah, mit den
betreffenden Bestimmungen vereinbar war. In diesem Kontext fällt es schwer,
nicht auf das widersprüchliche Verhalten des vorlegenden Gerichts hinzuweisen,
dessen Rechtsprechung zum einen vom Eurosystem größeren Formalismus und
die vorherige Festlegung von Regeln in Bezug auf das Ankaufvolumen im
Rahmen dieser Programme zu verlangen scheint und sich zum anderen (in
jüngerer Zeit) gegen die negativen Auswirkungen auflehnt, die gerade mit der
vorherigen Ankündigung des Volumens der Ankäufe durch das Eurosystem im
Rahmen des PSPP verbunden sind. Bevor wir diesen letztgenannten Kritikpunkt
eingehender behandeln, ist daher festzustellen, dass die Grundsätze der
Rechtsprechung des Gerichtshofs und der nationalen Gerichte dazu beigetragen
haben, dass das Eurosystem in der Folge des OMT-Programms die
währungspolitischen Sonderprogramme mit noch mehr Garantien versehen hat,
um jeglichen Verstoß gegen das Verbot monetärer Finanzierung zu vermeiden,
was namentlich die eindeutige vorherige Festlegung der für diese Programme
geltenden Regeln und Modalitäten implizierte, um den Handlungsspielraum der
Zentralbanken zu reduzieren und größere Transparenz zu schaffen (zu der im
Übrigen die Rechenschaftspflicht oder „accountability“ beiträgt).
37. Jedenfalls ist die Schlussfolgerung des Bundesverfassungsgerichts zu
prüfen, nach der die Regeln des PSPP, abgesehen von der Knappheit der zu dem
Programm zugelassenen Anleihen, bewirkten, dass bei den Emittenten und
anderen Marktteilnehmern eine sichere Erwartung (weitgehende Gewissheit)
entstehe, dass eine Anleihe bis zur Ankaufobergrenze erworben werde. Jedoch, so
die EZB, „hätten Emittenten ohnehin keine Gewissheit, dass Neuemissionen bis
zur Ankaufobergrenze durch das Eurosystem erworben würden, weil dieses nicht
direkt bei den Emittenten kaufe. Aber auch für Marktteilnehmer sei nicht
vorherzusagen, ob ein bestimmter Schuldtitel im Rahmen des PSPP erworben
werde“. Dem Eurosystem stehe es frei, Neuemissionen oder
[Or. 26] länger am
Markt befindliche Papiere zu kaufen. In vielen Staaten erfüllten ferner mehrere
Emittenten die Zulässigkeitskriterien. Relevant erscheint uns ferner der Hinweis
der EZB, dass das Eurosystem den PSPP-Bestand nur auf aggregierter Basis
veröffentliche, nicht aber auf Ebene einzelner Emittenten oder Schuldtitel. Auch
der Ausnutzungsgrad der Obergrenzen werde nicht veröffentlicht. Vor diesem
Hintergrund seien „Schätzungen von Marktteilnehmern … in hohem Maße
ungenau; nur wenige Geschäftspartner erlangten überhaupt Kenntnis vom
Kaufinteresse des Eurosystems“50.
38. Von Bedeutung ist ferner der Hinweis der EZB, dass eine Verlängerung der
Laufzeiten von Staatsanleihen bereits seit einigen Jahren und nicht erst seit der
Ankündigung des PSPP zu beobachten gewesen sei. Das Emissionsvolumen sei
49
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 10, vgl. Vorlagefrage 1b Ziff. i (Anm. d. Ü.: Der als Zitat
ausgewiesene Text ist in der angeführten Randnummer nicht enthalten).
50
Vgl. Wiedergabe der Stellungnahme der EZB, Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 38.
19
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
seit der Ankündigung geringfügig gesunken. Diese Entwicklung sei nicht auf die
Eurozone
beschränkt,
sondern
lasse
sich
auch
in
anderen
großen
Volkswirtschaften beobachten. Es sei allerdings nicht auszuschließen, dass das
niedrige Zinsniveau als Chance zu besonders vorteilhafter Finanzierung
angesehen werden könne51.
39. Außerdem besteht ein bedeutender Unterschied zwischen den vom
Gerichtshof in der Rechtssache Gauweiler verwendeten Kriterien und den
Bedingungen, die das Bundesverfassungsgericht für die Prüfung vorschlägt, ob
das in Art. 123 AEUV vorgesehene Verbot durch die Schaffung einer Erwartung
hinsichtlich des Ankaufs von staatlichen Anleihen am Sekundärmarkt durch das
Eurosystem missachtet wurde. Bei der Frage geht es nicht nur um das Fehlen einer
rechtlichen Verpflichtung der nationalen Zentralbanken, Staatsanleihen mit einer
bestimmten ISIN zu kaufen (so die EZB), was bewirkt, dass es keine Gewissheit
gibt, dass die zu erwerbenden Vermögenswerte nach ihrer Ausgabe tatsächlich
erworben werden52. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich nicht dargelegt,
[Or. 27] dass tatsächlich die Gewissheit bestand, dass das Eurosystem bestimmte
staatliche Anleihen bis zu einem bestimmten Betrag erwerben würde, so dass die
Marktteilnehmer als reine Mittelspersonen zwischen Emittenten und Eurosystem
agieren könnten. Möglicherweise ließe sich das Bestehen einer gewissen
Erwartung seitens der Marktteilnehmer hinsichtlich des Ankaufs von für das
Programm in Frage kommenden Anleihen durch das Eurosystem anführen, dies
stellt für sich genommen jedoch nach den Ausführungen des Gerichtshofs noch
keinen Verstoß gegen Art. 123 AEUV dar.
40. Zu beachten ist im Übrigen, dass das Ankaufvolumen bei den monatlichen
Ankäufen durch das Eurosystem nicht immer bis zur festgesetzten Obergrenze
ausgeschöpft wurde. Außerdem haben die Marktteilnehmer, die staatliche
Anleihen auf dem Primärmarkt erwerben, nach der Prüfung der mit diesen Käufen
verbundenen Risiken und der wirtschaftlichen Erträge beim Verkauf
möglicherweise kein Interesse daran, diese Anleihen am Sekundärmarkt zu
verkaufen. Vor diesem Hintergrund haben wir angesichts der verschiedenen
dargelegten Argumente den Eindruck, dass vorschnell geschlussfolgert wurde,
dass die Marktteilnehmer im Rahmen des Ankaufs der fraglichen Anleihen von
öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Staaten als
Mittelspersonen des Eurosystems agieren.
41. Ein weiterer entscheidender Gesichtspunkt für die Gewährleistung der
Beachtung des Grundsatzes des Verbots monetärer Finanzierung ist, wie auch die
Deutsche Bundesbank ausführt, die Bonität der vom Eurosystem im Rahmen des
PSPP erworbenen Vermögenswerte53. Die von den Rechtssubjekten begebenen
51
A.a.O., Rn. 39.
52
A.a.O., Rn. 35.
53
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 41.
20
WEISS U. A.
auf Euro lautenden marktfähigen Schuldtitel, die in dem Programm genannt sind,
können von der EZB oder von den nationalen Zentralbanken nur dann erworben
werden, wenn sie die im Rahmen der geldpolitischen Geschäfte des Eurosystems
festgelegten Zulassungskriterien, wie sie in der Leitlinie EZB/2011/14 (und den
entsprechenden Änderungen)
festgelegt sind, erfüllen. Das Bestehen eines
Investment Ratings
[Or. 28] für die Titel, die das Eurosystem im Rahmen des
PSPP erwerben kann, entsprechend den für die Währungspolitik des Eurosystems
festgelegten allgemeinen Regeln steht ferner vollkommen im Einklang mit der
währungspolitischen Natur dieses Programms und gewährleistet gleichzeitig einen
angemessenen Schutz hinsichtlich der mit dem Eingreifen der Zentralbanken
verbundenen Risiken54. Vor diesem Hintergrund geht die Schlussfolgerung, dass
das
PSPP
einer
Finanzhilfemaßnahme
zugunsten
der
Mitgliedstaaten
gleichkomme, eindeutig zu weit.
42. Im Übrigen gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Ankäufe im Rahmen des
PSPP dazu geführt hätten, dass die Mitgliedstaaten keine gesunde Haushaltspolitik
mehr verfolgen. Insoweit sei darauf hingewiesen, dass im Fall Portugals der
Beschluss des Rates (EU) 2017/1225 vom 16. Juni 2017, durch den Portugal aus
dem Verfahren wegen übermäßigen Defizits herausgenommen wurde, ein
eindeutiges Signal dafür ist, dass die währungspolitischen Sonderprogramme des
Eurosystems von beachtlichen Bemühungen seitens der Mitgliedstaaten begleitet
waren, ihren Haushalt dauerhaft und wirksam zu konsolidieren.
43. Schließlich kann der Erwerb staatlicher Anleihen mit negativer
Endfälligkeitsrendite unserer Ansicht nach nicht als Verstoß gegen Art. 123
AEUV angesehen werden. Erstens ist der Umstand, dass im Rahmen des PSPP
Schuldtitel mit Negativverzinsung zugelassen sind, der Notwendigkeit geschuldet,
das Spektrum der zu dem Programm zugelassenen Anleihen zu erweitern, um in
einem Kontext niedriger Zinssätze dessen Ziele zu erreichen. Außerdem heißt es
im Beschluss über das PSPP, dass der Ankauf
[Or. 29] nominaler marktfähiger
Schuldtitel mit negativer Endfälligkeitsrendite, begrenzt durch den Zinssatz für
die Einlagefazilität (-0,4 %), zulässig ist. Es trifft zwar zu, dass seit 1. Januar 2017
Ankäufe von Titeln mit unter diesem Zinssatz liegender Endfälligkeitsrendite
möglich sind. Das Eurosystem erwirbt jedoch im Rahmen des PSPP nach wie vor
vorrangig Titel mit einem über dem Zinssatz für die Einlagefazilität liegenden
Zinssatz55. Drittens schränken die rechtlichen Grundlagen des ESZB
54
Im besonderen Fall Griechenlands wurde durch den Beschluss (EU) 2016/1041 der EZB vom
22. Juni 2016 die Möglichkeit anerkannt, vom Staat begebene oder in vollem Umfang
garantierte marktfähige Schuldtitel zuzulassen, auch wenn die Mindestanforderungen des
Eurosystems in Bezug auf die Bonität in diesem Fall nicht erfüllt waren. Diese Regelung wurde
ausnahmsweise zugestanden, da Griechenland die Bedingungen eines Programms der
Europäischen Union/Währungsfonds erfüllte. Ankäufe von marktfähigen Schuldtiteln, die von
Griechenland begeben oder in vollem Umfang garantiert sind, dürfen gemäß Art. 3 des
genannten Beschlusses nur nach einer positiven Beurteilung der Fortschritte bei der Analyse
und der Verstärkung der Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung Griechenlands und
anderen Risikomanagementerwägungen durch den EZB-Rat erfolgen.
55
https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2017/html/pr170119.en.html.
21
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
(insbesondere die Satzung des ESZB und der EZB) das Tätigwerden des
Eurosystems nicht in der Weise ein, dass der Ankauf von Schuldtiteln mit
Negativrendite an den Sekundärmärkten untersagt wäre, was im Übrigen
angesichts des Charakters der in Rede stehenden Offenmarktgeschäfte schwer
verständlich wäre56. Schließlich gibt es im Rahmen des PSPP, wie bereits
dargelegt, keine Gewissheit, dass das Eurosystem staatliche Anleihen am
Sekundärmarkt erwirbt. In der Praxis hat auch keine Erhöhung der Emissionen
dieser Anleihen durch die Staaten stattgefunden. Es ist daher unrichtig, in diesem
Fall von einer Finanzierung der nationalen Haushalte durch die Zentralbank zu
sprechen.
44. Die zweite Frage, die das Bundesverfassungsgericht dem Gerichtshof zur
Vorabentscheidung vorgelegt hat, betrifft ebenfalls das Verbot der monetären
Finanzierung. Das vorlegende Gericht fragt, ob gegen dieses Verbot verstoßen
werde, wenn die weitere Durchführung des PSPP angesichts veränderter
Bedingungen an den Finanzmärkten, insbesondere infolge einer Verknappung
ankaufbarer Schuldtitel eine stetige Lockerung der ursprünglich geltenden
Ankaufregeln erfordere und die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs
festgelegten Beschränkungen für ein Anleihekaufprogramm, wie es das PSPP
darstelle, ihre Wirkung verlören.
[Or. 30]
45. Es liegt jedoch keine stetige Lockerung der Regeln des Programms im Sinne
einer stetigen Ausweitung des Volumens und der Dauer der Ankäufe vor, sondern
vielmehr eine Abstufung bei der Durchführung des Programms im Hinblick auf
die Erfüllung seiner währungspolitischen Ziele, was sich bereits in der Einführung
von Begrenzungen und im Abflauen des APP niedergeschlagen hat. So wurden,
wie bereits ausgeführt, das Volumen und die Dauer des APP, für das ursprünglich
ein Ankaufwert von monatlich 60 Milliarden Euro zumindest bis September 2016
vorgesehen war, nachträglich erhöht. Am 10. März 2016 beschloss der EZB-Rat
u. a., die Ankäufe im Rahmen des APP von diesem Zeitpunkt an auf monatlich 80
Milliarden Euro zu erhöhen, was bis Ende März 2017 beibehalten wurde. Ab
April 2017 wurde das Gesamtvolumen des APP auf seinen ursprünglichen Betrag
von monatlich 60 Milliarden Euro reduziert, und zwar bis Ende Dezember 2017.
Im Oktober 2017 kündigte der EZB-Rat an, dass im Rahmen des APP bis Ende
Dezember 2017 weiterhin monatliche Ankäufe in Höhe von 60 Milliarden Euro
stattfinden würden. Eine Reduzierung würde erst im Januar 2018 erfolgen, und
zwar auf 30 Milliarden Euro. Dieser Betrag würde dann bis September 2018
beibehalten. Der EZB-Rat kündigte ferner an, dass das Programm
möglicherweise, falls sich dies als notwendig erweisen sollte, über den September
2018 hinaus weiterlaufen würde, in jedem Fall bis der EZB-Rat eine nachhaltige
Korrektur des Inflationsniveaus erkenne, die mit den insoweit festgelegten Zielen
im Einklang stehe. Insgesamt trifft es zwar zu, dass die Dauer des APP verlängert
56
Gemäß Art. 18.2 der ESZB-Satzung „stellt [die EZB] allgemeine Grundsätze für ihre eigenen
Offenmarkt- und Kreditgeschäfte und die der nationalen Zentralbanken auf; hierzu gehören auch
die Grundsätze für die Bekanntmachung der Bedingungen, zu denen sie bereit sind, derartige
Geschäfte abzuschließen“.
22
WEISS U. A.
wurde, es sind jedoch auch Anpassungen beim Ankaufvolumen vorgenommen
worden, mit einer verstärkten Tendenz zu einer schrittweisen Reduzierung des
Volumens.
46. Das Eurosystem hat ferner, wie die EZB ausführt, im Rahmen des PSPP
Obergrenzen für Ankäufe von Wertpapieren des öffentlichen Sektors je Emission
und Emittent (issue and issuer limits) angewandt und so insbesondere zur
Neutralität seines Eingreifens auf dem Markt beigetragen57. Zwar fand zweifellos
eine Lockerung der insoweit ursprünglich festgelegten Grenzen statt,
[Or. 31] die
zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 123 AEUV aufgestellten Grundsätze
wurden jedoch trotzdem in vollem Umfang eingehalten. Es sei vor allem darauf
hingewiesen, dass die EZB im Rahmen des PSPP Schuldtitel von
Zentralregierungen und „anerkannten Organen“ aller erfassten Hoheitsgebiete
erwirbt. Die nationalen Zentralbanken erwerben nur von ihren eigenen
Zentralregierungen und von „anerkannten Organen“ des eigenen Hoheitsgebiets
begebene Staatsanleihen sowie Wertpapiere von internationalen Organisationen
und multilateralen Entwicklungsbanken. Pro ISIN galt zunächst eine
Ankaufobergrenze von 25 %, wobei diese Grenze für alle ankaufsfähigen
Schuldtitel ab dem 10. November 2015 auf 33 % angehoben wurde, sofern dieser
Prozentsatz nicht dazu führt, dass die nationalen Zentralbanken Sperrminoritäten
im geordneten Umschuldungsverfahren erlangen. Aufgrund des Beschlusses vom
18. April 2016 gilt für Wertpapiere von internationalen Organisationen nunmehr
eine Ankaufobergrenze von 50 % (damit zusammenhängend wurde der
Gesamtanteil solcher Wertpapiere von 12 % auf 10 % reduziert und der Anteil der
EZB am PSPP von 8 % auf 10 % erhöht)58. Wie die vorstehenden Ausführungen
zeigen, wurde bei der Lockerung der ursprünglich für das PSPP geltenden Regeln
gebührend dafür Sorge getragen, dass die nationalen Zentralbanken keine
Sperrminoritäten im geordneten Umschuldungsverfahren erlangen, was eine
wichtige Garantie für die Beachtung des Grundsatzes des Verbots der monetären
Finanzierung darstellt.
iv)
Vorschlag für eine Antwort auf die erste und die zweite
Vorlagefrage
47. Angesichts der vorstehenden Erwägungen sind wir der Ansicht, dass der
Gerichtshof die erste vom Bundesverfassungsgericht vorgelegte Frage dahin
beantworten sollte, dass der Beschluss (EU) 2015/774 der EZB über das PSPP in
der Fassung des Beschlusses (EU) 2015/2101 der EZB vom 5. November 2015
zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774, des Beschlusses (EU) 2016/702
der EZB vom 18. April 2016 zur Änderung des Beschlusses (EU)
[Or. 32] 2015/774, des Beschlusses (EU) 2017/100 der EZB vom 11. Januar 2017 zur
Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie des Beschlusses (EU) 2016/1041
der EZB vom 22. Juni 2016 über die Notenbankfähigkeit der von der Hellenischen
57
Vgl. Wiedergabe der Stellungnahme der EZB, Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 35.
58
Vgl. Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 22.
23
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Republik begebenen oder in vollem Umfang garantierten marktfähigen Schuldtitel
und zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2015/300 der EZB beziehungsweise die
Art und Weise seiner Ausführung nicht gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verstößt.
48. Ferner schlagen wir dem Gerichtshof vor, die zweite ihm zur
Vorabentscheidung vorgelegte Frage dahin zu beantworten, dass der Beschluss
der EZB über das PSPP sowie die späteren Änderungsbeschlüsse nicht gegen
Art. 123 AEUV verstoßen, da die Fortsetzung dieses Programms selbst bei
veränderten Bedingungen an den Finanzmärkten, insbesondere infolge einer
Verknappung ankaufbarer Schuldtitel, weder eine stetige Lockerung der
ursprünglich geltenden Ankaufregeln im Sinne einer stetigen Ausweitung des
Volumens und der Dauer des Programms erfordert hat, noch dazu geführt hat,
dass die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Beschränkungen für
ein Anleihekaufprogramm, wie es das PSPP darstellt, ihre Wirkung verloren
hätten.
B.
Zur Erfüllung des makroprudenziellen Mandats der EZB
i)
Begründung des Bundesverfassungsgerichts
49. Das Bundesverfassungsgericht äußert in seiner dritten und seiner vierten
Vorlagefrage in der vorliegenden Rechtssache Zweifel hinsichtlich des
währungspolitischen Charakters des PSPP und weist darauf hin, dass es
möglicherweise als wirtschaftliche Maßnahme einzustufen sei. Es führt
anschließend einige Argumente zur Untermauerung dieses von ihm vertretenen
Standpunkts an.
50. Mit der dritten dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage
möchte das Bundesverfassungsgericht wissen, ob der Beschluss über das PSPP in
seiner aktuellen Fassung gegen die Art. 119 und 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie
die Art. 17 bis 24 der Satzung
[Or. 33] des ESB und der EZB verstößt, weil er
über das in diesen Vorschriften geregelte Mandat der EZB zur Währungspolitik
hinausgeht und deshalb in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreift.
51. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts können als Indizien dafür,
dass die EZB ihr Mandat überschritten hat, insbesondere folgende Umstände
angesehen werden:
a)
Das Volumen des PSPP, das am 12. Mai 2017 1 534,8 Milliarden Euro
betrug, beeinflusst die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten erheblich;
b)
in Ansehung der im vorstehenden Absatz genannten Verbesserung der
Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten und deren Auswirkungen auf die
Geschäftsbanken, hat das PSPP nicht nur mittelbare wirtschaftspolitische Folgen,
sondern auch objektiv feststellbaren Auswirkungen, die eine wirtschaftspolitische
Zielsetzung
des
Programms
zumindest
als
gleichrangig
neben
der
währungspolitischen Zielsetzung nahe legen;
24
WEISS U. A.
c)
aufgrund der starken wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP liegt
ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor;
d)
der Beschluss über das PSPP kann mangels spezifischer Begründung
während des mehr als zwei Jahre andauernden Vollzugs nicht auf seine
fortdauernde Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden.
52. Die vierte Vorlagefrage hängt im Wesentlichen mit der dritten Frage
zusammen, da mit ihr gefragt wird, ob der Beschluss über das PSPP jedenfalls
deswegen gegen Art. 119 und Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis
24 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des ESZB und der EZB verstößt, weil
sein Volumen und sein mehr als zwei Jahre dauernder Vollzug und die sich
hieraus ergebenden wirtschaftspolitischen Auswirkungen (nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts) zu einer veränderten Betrachtung der Erforderlichkeit
und
[Or. 34] Verhältnismäßigkeit des PSPP Anlass geben und das Programm sich
dadurch ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Überschreitung des
währungspolitischen Mandats der Europäischen Zentralbank darstellt. Da die
beiden Fragen eng miteinander zusammenhängen, ist eine gemeinsame Prüfung
angebracht.
53. In seiner Begründung weist das Bundesverfassungsgericht zunächst auf die
Zuständigkeitsverteilung
zwischen
der
Europäischen
Union
und
den
Mitgliedstaaten hin, die dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung folgt
(Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 EUV). Dies gilt auch für Aufgaben und Befugnisse, die
die Verträge dem ESZB zuweisen, das aus der EZB und den nationalen
Zentralbanken
besteht
(Art. 282
Abs. 1
AEUV).
Nach
Ansicht
des
Bundesverfassungsgerichts „[muss d]ieses Mandat …, um demokratischen
Anforderungen zu genügen, eng begrenzt sein“, wobei „[d]ie Beachtung seiner
Grenzen … in vollem Umfang gerichtlicher Kontrolle [unterliegt]“; diese obliegt
„zuvörderst dem EuGH, dessen Aufgabe es ist, die Wahrung des Rechts bei der
Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern“ (Art. 19 Abs. 1 EUV)59.
54. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt die Unabhängigkeit, die
die EZB und die nationalen Notenbanken bei der Ausübung der ihnen
übertragenen Befugnisse genießen (Art. 130, Art. 282 Abs. 3 [] AEUV sowie
Art. 88 GG), „eine Durchbrechung der Anforderungen an die demokratische
Legitimation politischer Entscheidungen dar“. Das Bundesverfassungsgericht
erinnert daran, dass es „wiederholt festgestellt [hat], dass die mit der Übertragung
währungspolitischer Kompetenzen auf eine unabhängige Europäische Zentralbank
einhergehenden Einflussknicke mit demokratischen Grundsätzen noch vereinbar
sind, weil sie der erprobten und wissenschaftlich belegten Besonderheit der
Währungspolitik Rechnung trägt, dass eine unabhängige Zentralbank den
Geldwert und damit die allgemeine ökonomische Grundlage für die staatliche
Haushaltspolitik eher sichert als Organe,
[Or. 35] die in ihrem Handeln von
Geldmenge und Geldwert abhängen und auf die kurzfristige Zustimmung
59
A.a.O., Rn. 102.
25
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
politischer Kräfte angewiesen sind“. Das Bundesverfassungsgericht fügt
allerdings hinzu, dass diese „verfassungsrechtliche Billigung der Unabhängigkeit
der EZB … jedoch die Notwendigkeit restriktiver Auslegung ihres Mandats
[begründet]. Dieses ist auf den Bereich einer vorrangig stabilitätsorientierten
Geldpolitik beschränkt und lässt sich nicht auf andere Politikbereiche
übertragen“60.
55. Das Bundesverfassungsgericht ist ferner der Auffassung, dass sich die durch
den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistete
Unabhängigkeit „nur auf die der EZB durch die Verträge eingeräumten
Befugnisse und deren inhaltliche Ausgestaltung [bezieht], nicht aber auf die
Bestimmung von Umfang und Reichweite ihres Mandats“, wobei feststehe, dass
das ESZB gemäß dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung „innerhalb
der Grenzen der Befugnisse zu handeln [hat], die ihm das Primärrecht verleiht,
und … daher nicht in gültiger Weise ein Programm beschließen und durchführen
[kann], das über den Bereich hinausgeht, der der Währungspolitik durch das
Primärrecht zugewiesen wird“61.
56. Unter erneutem Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache
Gauweiler führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass gemäß Art. 119 Abs. 2
AEUV und Art. 127 Abs. 1 AEUV (die beide die Währungspolitik betreffen) in
Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 EUV (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der
Maßnahmen der Union) „ein zur Währungspolitik gehörendes Programm für den
Ankauf von Anleihen nur in gültiger Weise beschlossen und durchgeführt werden
könne, wenn die von ihm umfassten Maßnahmen in Anbetracht der Ziele dieser
Politik verhältnismäßig seien“. Das Bundesverfassungsgericht weist zwar darauf
hin, dass der Gerichtshof „dem ESZB im Hinblick auf das OMT-Programm einen
weiten Ermessensspielraum [eingeräumt habe], da es insoweit Entscheidungen
technischer Natur [treffe] und komplexe Prognosen und Beurteilungen vornehmen
müsse“. Es führt jedoch auch aus, dass der Gerichtshof „[z]ugleich betonte …,
dass in Fällen, in denen ein EU-Organ über ein weites Ermessen verfüge, der
Kontrolle der Einhaltung bestimmter verfahrensrechtlicher Garantien wesentliche
Bedeutung zukomme“. Zu diesen
[Or. 36] Garantien gehöre die Verpflichtung des
ESZB, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls
zu untersuchen und seine Entscheidungen hinreichend zu begründen62.
57. Zur Regelung der Kompetenzabgrenzung in diesem Bereich führt das
Bundesverfassungsgericht aus, dass die „Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik
im Sinne des Titels VIII AEUV … – soweit sie über der Union ausdrücklich
zugewiesene Sonderzuständigkeiten (z. B. Art. 121, Art. 122, Art. 126 AEUV)
hinausgeht – bei den Mitgliedstaaten [liegt]. Sie sind namentlich für die
60
A.a.O., Rn. 103.
61
A.a.O., Rn. 105.
62
A.a.O., Rn. 111. Die relevanten Randnummern des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache
Gauweiler sind die Rn. 66, 68 und 69.
26
WEISS U. A.
Festlegung der Ziele und die Wahl der Instrumente der Wirtschaftspolitik
zuständig“. Die Rolle der Union sei insoweit gemäß Art. 2 Abs. 3 und Art. 5 Abs.
1 AEUV „auf den Erlass von Koordinierungsmaßnahmen beschränkt“ (vgl. Urteil
des Gerichtshofs vom 27. November 2012, Pringle, C-370/12,
Rn. 64). Das ESZB
sei daher lediglich „befugt, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union zu
unterstützen, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität
möglich ist“ (Art. 119 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1, Art. 282 Abs. 2 AEUV). Die
Befugnis
zur
Unterstützung
der
allgemeinen
Wirtschaftspolitik
der
Mitgliedstaaten auf Unionsebene (Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV) rechtfertige eine
Wirtschaftslenkung durch das Eurosystem nicht63.
58. Die vorstehenden Erwägungen veranlassen das Bundesverfassungsgericht zu
der Schlussfolgerung, dass es „gewichtige Anhaltspunkte dafür [gibt], dass der
PSPP-Beschluss aufgrund seines Volumens und wegen seines mehr als zwei Jahre
dauernden Vollzugs vom Mandat der EZB nicht gedeckt ist“. Aus Sicht des
Bundesverfassungsgerichts „könnte er sich auf der Grundlage einer Gesamtschau
der maßgeblichen Abgrenzungskriterien nicht mehr als währungspolitische,
sondern als überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme darstellen“. Das
Bundesverfassungsgericht erkennt zwar an, dass das PSPP „eine erklärte
währungspolitische Zielsetzung [hat] und … sich zur Verfolgung dieses Ziels
geldpolitischer Mittel [bedient]“;
[Or. 37] jedoch „sind die wirtschaftspolitischen
Auswirkungen aufgrund des Volumens des PSPP und der … Voraussehbarkeit des
Ankaufs von Staatsanleihen bereits unmittelbar im Programm selbst angelegt“.
Damit erweise sich das PSPP „in Bezug auf die ihm zugrundeliegende
währungspolitische Zielsetzung als unverhältnismäßig“. Zudem „lassen die
Beschlüsse, die die Grundlage des Programms bilden, eine nachvollziehbare
Begründung vermissen, die es erlauben würde, während des mehrere Jahre
umfassenden Vollzugs der Beschlüsse die fortdauernde Erforderlichkeit des
Programms laufend zu überprüfen“64.
59. Aus
dem
Vorabentscheidungsersuchen
ergibt
sich,
dass
das
Bundesverfassungsgericht weder die erklärten Ziele, noch die im Rahmen des
PSPP verwendeten Mittel beanstandet. So führt es aus, dass das Ziel des PSPP,
die Inflationsrate auf knapp 2 % steigern zu wollen, „eine grundsätzlich zulässige
Konkretisierung der Aufgabe dar[stellt], die Preisstabilität zu sichern“. Auch die
Gewährleistung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus gehöre zur
Geldpolitik, wie in den Rn. 47 ff. des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache
Gauweiler
anerkannt
worden
sei.
Zu
den
Zielen
führt
das
Bundesverfassungsgericht weiter aus, dass „[d]a die Inflationsrate maßgeblich von
dem Ausgabeverhalten privater Haushalte und der Realwirtschaft abhängt, … die
Erhöhung der Liquidität der Geschäftsbanken und ihrer Kunden als taugliches
Zwischenziel auf dem Weg zur Beeinflussung der Preissteigerung in Betracht
63
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 113.
64
A.a.O., Rn. 114.
27
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
[kommt]“65. Gleiches gelte für die eingesetzten Mittel: Anleiheankäufe seien dem
ESZB gemäß Art. 18.1 der Satzung des ESZB und der EZB ausdrücklich erlaubt,
weshalb Anleihekaufprogramme zu den kompetenzgemäßen Mitteln der
Geldpolitik gehörten66.
60. für das Bundesverfassungsgericht „[ist indes] zweifelhaft …, ob mit der
Berücksichtigung der Zielsetzung einer Maßnahme und der gewählten Mittel
allein allerdings
[Or. 38] eine Abgrenzung zwischen der Währungs- und
Wirtschaftspolitik und eine Bestimmung der Grenzen des Mandats des
Eurosystems möglich ist“. Zwar seien nur mittelbare wirtschaftspolitische
Auswirkungen währungspolitischer Maßnahmen nicht per se geeignet, die in Rede
stehende Maßnahme insgesamt dem Bereich der Wirtschaftspolitik zuzuordnen
(wie der Gerichtshof im Urteil Gauweiler, Rn. 52 und 59, festgestellt hat). „Vom
Vorliegen ‚mittelbarer Auswirkungen‘ kann indes nur dann gesprochen werden,
wenn diese lediglich eine durch weitere Zwischenschritte verbundene, nicht sicher
vorhersehbare Konsequenz der angegriffenen Maßnahme sind“. Dagegen „[kann
v]on einer ‚mittelbaren‘ wirtschaftspolitischen Wirkung … möglicherweise dann
nicht mehr gesprochen werden, wenn wirtschaftspolitische Effekte einer
Maßnahme intendiert oder zumindest bewusst in Kauf genommen werden und
ihnen ein mit der währungspolitischen Zielsetzung jedenfalls vergleichbares
Gewicht zukommt“67.
61. Diese letztgenannte Feststellung passt mit der Vorstellung des
Bundesverfassungsgerichts zusammen, dass die „Akzeptanz der von den
zuständigen EU-Organen oder -Einrichtungen angegebenen Zielsetzungen,
verbunden mit der Anerkennung weiter Beurteilungsspielräume dieser Stellen und
einer Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte … geeignet [erscheint], den
Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union eine
eigenständige Disposition über die Reichweite der ihnen von den Mitgliedstaaten
zur Ausübung überlassenen Kompetenzen zu ermöglichen“. Ein solches
Kompetenzverständnis
trage
nämlich „dem Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung und der Notwendigkeit restriktiver Auslegung des Mandats
der EZB nicht hinreichend Rechnung. Es bedarf vielmehr einer wertenden
Gesamtbetrachtung, die auch gegen die erklärte Zielsetzung sprechende
Gesichtspunkte einbezieht“68.
62. Laut dem Bundesverfassungsgericht hat das PSPP „über die erklärte
währungspolitische Zielsetzung hinaus und unabhängig vom Grad seiner
Zielerreichung erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen“. Allein aufgrund
seines
Volumens
erschienen
seine
wirtschaftslenkenden
Effekte
„als
65
A.a.O., Rn. 117.
66
A.a.O., Rn. 118.
67
A.a.O., Rn. 119.
68
A.a.O., Rn. 119.
28
WEISS U. A.
zwangsläufige Folgen einer geldpolitischen
[Or. 39] Zielsetzung“. Denn das
PSPP „greift in die Bilanzstrukturen der Geschäftsbanken ein, indem es auch
risikobehaftete Anleihen von Mitgliedstaaten in großem Umfang aus deren
Bilanzen in die Bilanzen von EZB und nationalen Zentralbanken überträgt. Dies
verbessert die wirtschaftliche Situation der Banken erheblich und erhöht ihre
Bonität“. Auf diese Weise „können [die Banken] riskante Papiere an das
Eurosystem verkaufen, die sie ansonsten nicht oder nur unter Verlusten hätten
abstoßen können. Die dadurch induzierte faktische wirtschaftspolitische
Präponderanz führt im Ergebnis möglicherweise dazu, dass die EZB
wirtschaftslenkend tätig wird …“69.
63. Das Bundesverfassungsgericht weist ferner darauf hin, dass das PSPP „die
Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten [verbessert]“, da diese „sich zu
deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen [können],
als dies ohne das Programm der Fall wäre“. Das Bundesverfassungsgericht
erkennt zwar an, dass die Geldpolitik „regelmäßig auf Zinssätze und
Refinanzierungsbedingungen der Banken ein[wirkt], was immer auch
Konsequenzen
für
die
Finanzierungsbedingungen
der
Haushalte
der
Mitgliedstaaten hat … Es stellt sich die Frage, inwieweit das besonders hohe
Volumen des PSPP und die damit verbundenen ganz erheblichen
wirtschaftspolitischen Effekte im soeben beschriebenen Sinne dazu führen
können, dass dieses Programm qualitativ als vorrangig wirtschaftspolitisch
einzuordnen ist“. Weiter wird angemerkt, dass „sich die Mitgliedstaaten der
Eurozone über die durch die Anleihekäufe bewirkte Verbesserung ihrer
Refinanzierungsbedingungen im Klaren sind“. Für die EZB dürfte darüber hinaus
„vorhersehbar sein, dass die Staaten ihre Neuverschuldung erhöhen werden, um
durch Investitionsprogramme die Wirtschaft in Schwung zu bringen; das ist, wie
bereits ausgeführt, auch überwiegend geschehen“. Das Bundesverfassungsgericht
schließt daraus, dass „[d]ie wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP …
damit nicht nur als mittelbare Folge währungspolitischer Zielsetzungen erscheinen
[könnten],
[Or. 40] sondern als zumindest gleichgewichtiger Zweck des
Programms“70.
64. In
Bezug
auf
die
Auswirkungen
des
PSPP
beanstandet
das
Bundesverfassungsgericht ferner, dass die tatsächlichen Auswirkungen des
Ankaufs von Staatsanleihen im Rahmen des PSPP auf die Entwicklung der
Inflationsrate im Euroraum nicht quantifiziert sei. Demgegenüber habe das PSPP
jedenfalls bewirkt, dass „die Mitgliedstaaten der Eurozone die Emission niedrig
verzinster Staatsanleihen gezielt als Mittel ihrer Haushaltspolitik einsetzen können
und der Betrieb der Geschäftsbanken faktisch subventioniert wird“. Nach Ansicht
des Bundesverfassungsgerichts ist vor dem Hintergrund dieser erheblichen
wirtschaftspolitischen Effekte „fraglich, ob die gewählten Maßnahmen zur
Erreichung
der
angegebenen
währungspolitischen
Zielsetzung
noch
69
A.a.O.; Rn. 120.
70
A.a.O., Rn. 121.
29
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
verhältnismäßig sind“. Verhältnismäßig wären diese Effekte wohl nur, „wenn die
EZB sie erkennbar … abgewogen hätte“. Deshalb spricht nach Ansicht des
vorlegenden Gerichts viel dafür, „dass die Hinnahme kompetenziell
problematischer wirtschaftspolitischer Wirkungen des PSPP sich im Hinblick auf
den damit verfolgten legitimen währungspolitischen Zweck als unverhältnismäßig
darstellen könnte“71.
65. Schließlich fehlt es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch an
einer spezifischen Begründung in den Beschlüssen, die die Grundlage des
Programms und seines Vollzugs bilden. Zwar hat die EZB „fortlaufend die
Relevanz des PSPP für die Erreichung des von ihr angestrebten Inflationsziels
betont. Eine nähere Begründung für Erforderlichkeit, Ausmaß und Dauer der
wirtschaftspolitischen Effekte des Programms hat sie jedoch nicht gegeben;
insbesondere fehlt es an einer Abwägung der beabsichtigten währungspolitischen
Wirkungen des PSPP mit den zu erwartenden zusätzlichen wirtschaftspolitischen
Effekten“. Dies habe zur
[Or. 41] Folge, „dass die Bestimmung des Zeitpunkts, zu
dem eine Beendigung des Programms zu erwarten ist, zumindest erschwert, wenn
nicht unmöglich gemacht wird“72.
ii)
Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Gauweiler
66. Die Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil Gauweiler stellen angesichts der
Ähnlichkeiten
zwischen
dem
PSPP
und
dem
OMT-Programm
als
währungspolitischen Sonderprogrammen der EZB/des Eurosystems, bei denen
staatliche Anleihen am Sekundärmarkt erworben werden, eine grundlegende Basis
für eine angemessene Antwort des Gerichtshofs auf die nun vom
Bundesverfassungsgericht aufgeworfenen Fragen dar. Übrigens
werden
wesentliche Gesichtspunkte der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in
der Rechtssache Gauweiler, namentlich was die Abgrenzung zwischen Geldpolitik
und Wirtschaftspolitik betrifft, in der vorliegenden Rechtssache erneut
gleichlautend oder leicht abgewandelt vorgebracht. Die Unterschiede zwischen
dem PSPP und dem OMT-Programm sind der Argumentation des
Bundesverfassungsgerichts in der vorliegenden Rechtssache jedoch (wie im
Folgenden gezeigt werden wird) nicht zuträglich.
67. Im Urteil Gauweiler hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass aus seiner
Rechtsprechung hervorgehe, dass „für die Entscheidung über die Frage, ob eine
Maßnahme zur Währungspolitik gehört, hauptsächlich auf die Ziele dieser
Maßnahme abzustellen ist“. Die Mittel, die die Maßnahme zur Erreichung dieser
Ziele einsetze, seien ebenfalls erheblich (vgl. in diesem Sinne Urteil Pringle,
C-370/12, Rn. 53 und 55)73. Der „Umstand, dass [das OMT-]Programm …
möglicherweise geeignet ist, auch zur Stabilität des Euro-Währungsgebiets
71
A.a.O., Rn. 122.
72
A.a.O., Rn. 123.
73
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 46.
30
WEISS U. A.
beizutragen, die zur Wirtschaftspolitik gehört“ (wie der Gerichtshof im Urteil
Pringle festgestellt hat), „kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen“74.
[Or. 42]
68. Wie der Gerichtshof im Urteil Gauweiler weiter ausführt, kann nämlich
„[e]ine währungspolitische Maßnahme … nicht allein deshalb einer
wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden, weil sie mittelbare
Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann (vgl.
entsprechend Urteil Pringle, … Rn. 56)“75. Solche mittelbaren Auswirkungen
können „nicht bedeuten, dass ein solches Programm als eine wirtschaftspolitische
Maßnahme einzustufen wäre, da sich aus Art. 119 Abs. 2 AEUV, Art. 127 Abs. 1
AEUV und Art. 282 Abs. 2 AEUV ergibt, dass das ESZB ohne Beeinträchtigung
des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union
unterstützt“76.
69. Ferner hat der Gerichtshof festgestellt, dass, „[d]a sich das ESZB … gemäß
Art. 127 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 119 Abs. 3 AEUV an den
richtungweisenden Grundsatz zu halten hat, dass die öffentlichen Finanzen gesund
sein müssen, … die [im OMT-]Programm festgelegten Voraussetzungen, durch
die vermieden werden kann, dass dieses Programm dazu beiträgt, für die
Mitgliedstaaten einen Anreiz zur Verschlechterung ihrer Haushaltslage zu
schaffen, nicht den Schluss rechtfertigen [können], dass dieses Programm den
Rahmen überschritte, den das Primärrecht der Währungspolitik vorgibt“77.
70. Im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Vorgehens der
EZB beim OMT-Programm hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, „dass nach
ständiger
Rechtsprechung
des
Gerichtshofs
der
Grundsatz
der
Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane zur
Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet
sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung dieser
Ziele erforderlich ist“ (vgl. in diesem Sinne Urteil Association Kokopelli,
C-59/11, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung)78. Was die gerichtliche
Nachprüfung der Einhaltung dieser Voraussetzungen anbelangt, „ist dem ESZB,
da es bei der Ausarbeitung und Durchführung eines Programms für
Offenmarktgeschäfte, wie [dem OMT-Programm] Entscheidungen technischer
Natur treffen und komplexe Prognosen und Beurteilungen vornehmen muss,
[Or. 43] in diesem Rahmen ein weites Ermessen einzuräumen (vgl. entsprechend
74
A.a.O., Rn. 51.
75
A.a.O., Rn. 52.
76
A.a.O., Rn. 59.
77
A.a.O., Rn. 61.
78
A.a.O., Rn. 67.
31
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Urteile Afton Chemical, C-343/09, … Rn. 28, sowie Billerud Karlsborg und
Billerud Skärblacka, C-203/12, … Rn. 35)“79.
71. Wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, hat der Gerichtshof
indessen festgestellt, dass in Fällen, in denen ein Unionsorgan über ein weites
Ermessen verfügt, „der Kontrolle der Einhaltung bestimmter verfahrensrechtlicher
Garantien wesentliche Bedeutung zu[kommt]“. Zu diesen Garantien „gehört die
Verpflichtung des ESZB, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten
Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidungen
hinreichend zu begründen“80. Insoweit sei (so der Gerichtshof weiter) zu beachten,
dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch Art. 296 Abs. 2
AEUV vorgeschriebene Begründung eines Rechtsakts der Union „zwar die
Überlegungen des Urhebers dieses Rechtsakts so klar und eindeutig zum
Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene
Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann,
jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte
enthalten muss“81.
72. Nachdem die EZB, wie bereits ausgeführt, im Rahmen der im Vertrag
vorgesehenen Ziele und Instrumente bei der Festlegung von währungspolitischen
Interventionen über ein weites Ermessen verfügt, hat der Gerichtshof festgestellt,
dass nicht ersichtlich sei, dass die Analyse der Wirtschaftslage des Euro-
Währungsgebiets, die zum Zeitpunkt der Ankündigung des OMT-Programms
gegeben war, „mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet wäre“82. So
hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „der vom vorlegenden Gericht angeführte
Umstand, dass gegen diese mit einer Begründung versehene Analyse [der EZB]
Einwände erhoben wurden, als solcher nicht genügen [kann], um diese
Beurteilung in Frage zu stellen, da
[Or. 44] vom ESZB mit Rücksicht darauf, dass
geldpolitische Fragen gewöhnlich umstritten sind und es über ein weites Ermessen
verfügt, nicht mehr als der Einsatz seines wirtschaftlichen Sachverstands und der
ihm zur Verfügung stehenden notwendigen technischen Mittel verlangt werden
kann, um diese Analyse mit aller Sorgfalt und Genauigkeit durchzuführen“83.
73. Indem der Gerichtshof anerkannt hat, dass die bloße Ankündigung des
OMT-Programms insoweit wirksam war, als sie dazu beigetragen hat, die hohen
79
A.a.O., Rn. 68.
80
A.a.O., Rn. 69.
81
A.a.O., Rn. 70. Der Gerichtshof hat ferner erklärt, dass die Beachtung der Begründungspflicht
im Übrigen „nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen [ist], sondern auch
anhand seines Kontexts und sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln
(vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Rat, C-63/12, … Rn. 98 und 99 und die dort
angeführte Rechtsprechung)“.
82
A.a.O., Rn. [74].
83
A.a.O., Rn. 75.
32
WEISS U. A.
Finanzierungskosten einiger Mitgliedstaaten zu reduzieren, deren Situation das
normale Funktionieren der geldpolitischen Transmissionsmechanismen im
Eurosystem beeinträchtigte, hat er gebührend berücksichtigt, dass die
Durchführung des OMT-Programms an die mit ihm verfolgten Ziele gebunden
war, und insoweit darauf hingewiesen, dass das „potenzielle Ausmaß“ dieses
Programms „in mehrfacher Weise beschränkt wird“84. Laut dem Gerichtshof
ergab sich aus den Merkmalen des OMT-Programms, dass dieses Programm,
neben anderen Gesichtspunkten, „letztlich nur einen begrenzten Teil der von den
Staaten des Euro-Währungsgebiets begebenen Staatsanleihen betrifft, so dass die
Verpflichtungen, die die EZB mit der Durchführung eines solchen Programms
voraussichtlich eingeht, tatsächlich eingegrenzt und beschränkt sind“85.
74. Der Gerichtshof hat nämlich festgestellt, dass das ESZB „die verschiedenen
beteiligten Interessen in der Weise gegeneinander abgewogen hat, dass tatsächlich
vermieden wird, dass sich bei der Durchführung des fraglichen Programms
Nachteile ergeben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stehen“86.
Insgesamt
[Or. 45] wurde festgestellt, dass das OMT-Programm eine
währungspolitische Maßnahme darstelle, die von der EZB und den nationalen
Zentralbanken durchzuführen sei, weshalb die Vereinbarkeit des Programms mit
den Verträgen der Europäischen Union insoweit gewährleistet gewesen sei.
iii)
Würdigung
75. Anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Urteil Gauweiler lässt sich
darlegen, dass die Kriterien, die der Gerichtshof im Rahmen des OMT-Programms
für relevant hielt, zu dem Schluss führen, dass das PSPP aufgrund derselben
Grundsätze eine währungspolitische (und keine wirtschaftspolitische) Maßnahme
darstellt, die die EZB im Rahmen des angemessenen Gebrauchs des Ermessens,
das der Vertrag ihr in Bezug auf diese Politik zuerkennt, ergreifen konnte. Wie im
Folgenden anknüpfend an die vorstehend angeführten Feststellungen des
Gerichtshofs noch näher ausgeführt wird, stellen die Ziele, die Instrumente, die
Verhältnismäßigkeit und die angemessene Begründung des PSPP Faktoren dar,
die entscheidend dazu beitragen, dass diesem Programm ein währungspolitischer
Charakter zuzuerkennen ist.
84
A.a.O. In diesem Fall hat der Gerichtshof insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass „das
ESZB im Rahmen eines solchen Programms nur Staatsanleihen von Mitgliedstaaten erwerben
[darf], die an einem makroökonomischen Anpassungsprogramm teilnehmen und erneut Zugang
zum Anleihemarkt haben. Überdies konzentriert sich ein Programm wie das in den
Ausgangsverfahren fragliche auf Staatsanleihen mit einer Laufzeit von weniger als drei Jahren,
wobei sich das ESZB die Möglichkeit vorbehält, die erworbenen Anleihen jederzeit wieder zu
verkaufen“ (Rn. 86).
85
A.a.O., Rn. 87. Das OMT-Programm identifizierte, so der Gerichtshof, die Mitgliedstaaten,
deren Anleihen erworben werden können, „auf der Grundlage von Kriterien …, die an die
verfolgten Ziele geknüpft sind, und nicht im Wege einer willkürlichen Auswahl“ (Rn. 90).
86
A.a.O., Rn. 91.
33
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
76. Wie oben ausgeführt, hat der Gerichtshof im Urteil Gauweiler unter Verweis
auf das Urteil Pringle (C-370/12) festgestellt, dass „für die Entscheidung über die
Frage, ob eine Maßnahme zur Währungspolitik gehört, hauptsächlich auf die Ziele
dieser Maßnahme abzustellen ist“, wobei die Mittel, die die Maßnahme zur
Erreichung dieser Ziele einsetzt, ebenfalls erheblich sind87. Der Umstand, dass ein
Programm der EZB, das erklärtermaßen währungspolitische Ziele verfolgt,
möglicherweise geeignet ist, auch zur Stabilität des Euro-Währungsgebiets (d. h.
zur Wirtschaftspolitik der Union) beizutragen, kann die Beschaffenheit des
Programms als währungspolitisches Programm nämlich nicht in Frage stellen88.
[Or. 46]
77. Wie jedoch das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt, betreffen die
Ziele des PSPP die Preisstabilität und damit die Währungspolitik. Wie sich aus
dem dritten Erwägungsgrund des Beschlusses über das PSPP ergibt, hat der
EZB-Rat im Januar 2015 „beschlossen, die Wertpapierankäufe um ein Programm
zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten
[PSPP] zu erweitern“, wobei die nationalen Zentralbanken im Rahmen dieses
Programms im Verhältnis zu ihren jeweiligen Anteilen am Kapitalschlüssel der
EZB und die EZB „notenbankfähige marktfähige Schuldtitel von zugelassenen
Geschäftspartnern an den Sekundärmärkten endgültig kaufen [können]“.
78. In diesem Erwägungsgrund heißt es weiter, dass dieser Beschluss „als Teil
der einheitlichen Geldpolitik angesichts verschiedener Faktoren gefasst [wurde],
welche das Abwärtsrisiko in Bezug auf die Aussichten für die mittelfristige
Preisentwicklung wesentlich erhöht haben, wodurch das Erreichen des
vorrangigen Ziels der EZB, die Preisstabilität zu gewährleisten, gefährdet ist“. Zu
diesen Faktoren „zählen die hinter den Erwartungen zurückgebliebenen
geldpolitischen Impulse der umgesetzten geldpolitischen Maßnahmen, ein
Rückgang der meisten Indikatoren für die gegenwärtige und erwartete Inflation im
Euro-Währungsgebiet – Gesamtinflationsindikatoren und um die Auswirkungen
volatiler
Komponenten
wie
Energie
und
Nahrungsmittel
bereinigte
Kerninflationsindikatoren – auf historische Tiefstände und die verstärkte
Möglichkeit von Zweitrundeneffekten auf die Lohn- und Preissetzung aufgrund
des starken Rückgangs der Ölpreise“.
79. Im vierten Erwägungsgrund des Beschlusses über das PSPP heißt es ferner,
dass das PSPP „ein verhältnismäßiges Instrument [ist], um die in Bezug auf die
Aussichten für die Preisentwicklung bestehenden Risiken aufzufangen, da es eine
weitere Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen bewirkt, hierin
eingeschlossen jene, die die Finanzierungsbedingungen für private Haushalte und
nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften im Euro-Währungsgebiet betreffen. Es
fördert damit insgesamt den Konsum und die Investitionsausgaben im
Euro-Währungsgebiet und trägt somit dazu bei, dass die Inflationsraten sich
87
A.a.O., Rn. 46.
88
A.a.O., Rn. 51.
34
WEISS U. A.
[Or. 47] mittelfristig wieder einem Niveau von unter, aber nahe 2 % annähern“.
Weiter heißt es in diesem Erwägungsgrund: „In einem Umfeld, in dem die
Leitzinsen der EZB ihre Untergrenze erreicht und die auf Vermögenswerte des
privaten Sektors fokussierten Ankaufprogramme messbare, jedoch unzureichende
Wirkung gezeigt haben, um den Risiken einer schwindenden Preisstabilität zu
begegnen, ist es erforderlich, die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems
um das PSPP als ein Instrument mit hohem Transmissionspotenzial für die
Realwirtschaft zu ergänzen“. Daraus wird anschließend geschlossen, dass Dank
der Portfolioumschichtungswirkung „das erhebliche Ankaufvolumen des PSPP
dazu beitragen [wird], das zugrunde liegende geldpolitische Ziel zu erreichen, dass
die Finanzintermediäre mehr Liquidität am Interbankenmarkt bereitstellen und die
Kreditvergabe an die Realwirtschaft im Euro-Währungsgebiet erhöhen“.
80. Außerdem gehören, wie auch das Bundesverfassungsgericht einräumt,
Offenmarktgeschäfte, die in diesem Fall im Ankauf bestimmter auf Euro lautender
marktfähiger Schuldtitel, die von der Zentralregierung eines Mitgliedstaats, dessen
Währung der Euro ist, anerkannten Organen mit Sitz im Euro-Währungsgebiet,
internationalen Organisationen mit Sitz im Euro-Währungsgebiet und
multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben
werden, bestehen, in den Bereich der währungspolitischen Operationen des ESZB
im Sinne von Art. 18 der Satzung des ESZB und der EZB.
81. Was die Struktur und die Form der Durchführung des PSPP angeht, wurde
dieses Programm mit erhöhten Garantien hinsichtlich der Verfolgung des
geldpolitischen Mandats versehen. Sowohl das OMT-Programm als auch das
PSPP stellen Beispiele für währungspolitische Sonderprogramme der EZB dar;
anders als das erstgenannte Programm, in dessen Rahmen staatliche Anleihen der
Mitgliedstaaten des Euroraums erworben werden sollten, die einem Programm der
Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität/Stabilitätsmechanismus unterliegen,
[Or. 48] unterliegt das PSPP jedoch nicht solchen Bedingungen. Beim PSPP
erstrecken sich die Ankäufe auf alle Mitgliedstaaten des Euro-Raums und
verteilen sich nach dem Kapitalschlüssel der EZB. Sie erfüllen im Allgemeinen
die vom Eurosystem festgelegten Zulässigkeitsanforderungen für geldpolitische
Geschäfte, die sich aus der Leitlinie (EU) 2015/510 vom 19. Dezember 2014 über
die Umsetzung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems
(EZB/2014/60)89 ergeben. Außerdem tragen auch die übrigen Anforderungen, die
das PSPP charakterisieren (z. B. das zuvor angekündigte Volumen der Ankäufe
und die Beschränkungen hinsichtlich der Emissionen und Emittenten), dazu bei,
dem Programm den Charakter einer geldpolitischen Initiative der EZB zu
verleihen.
82. Wie bereits ausgeführt, beanstandet das Bundesverfassungsgericht nicht die
Ziele und Durchführungsmittel (Marktgeschäfte) des PSPP, sondern stellt eher
dessen
Wirkungen
in
Frage
und
in
diesem
Zusammenhang
die
89
ABl. 2015, L 91 vom 2. April 2015, S. 3.
35
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Verhältnismäßigkeit des Programms, was dessen wirtschaftliche „spillovers“
anbelangt. Es sei daran erinnert, dass der Gerichtshof im Urteil Gauweiler
festgestellt hat, dass „[e]ine währungspolitische Maßnahme … nicht allein deshalb
einer wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden [kann], weil sie
mittelbare Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann
…“90. Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass solche mittelbaren
Auswirkungen „nicht bedeuten [können], dass ein solches Programm als eine
wirtschaftspolitische Maßnahme einzustufen wäre, da sich aus Art. 119 Abs. 2
AEUV, Art. 127 Abs. 1 AEUV und Art. 282 Abs. 2 AEUV ergibt, dass das ESZB
ohne
Beeinträchtigung
des
Ziels
der
Preisstabilität
die
allgemeine
Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt“91.
83. Mit
diesen
Erwägungen
scheint
jedoch
die
Auslegung
des
Bundesverfassungsgerichts nicht im Einklang zu stehen, nach der „[v]om
Vorliegen ‚mittelbarer Auswirkungen‘ … nur dann gesprochen werden [kann],
wenn diese lediglich eine durch weitere Zwischenschritte verbundene, nicht sicher
vorhersehbare Konsequenz der angegriffenen Maßnahme sind“,
[Or. 49] und im
Gegenteil „[v]on einer ‚mittelbaren‘ wirtschaftspolitischen Wirkung …
möglicherweise
dann
nicht
mehr
gesprochen
werden
[kann],
wenn
wirtschaftspolitische Effekte einer Maßnahme intendiert oder zumindest bewusst
in Kauf genommen werden und ihnen ein mit der währungspolitischen
Zielsetzung jedenfalls vergleichbares Gewicht zukommt“92.
84. Der Gerichtshof verknüpft das mögliche Vorliegen von mittelbaren
wirtschaftlichen Wirkungen nicht mit einer zwingend marginalen Natur dieser
Wirkungen. Er verlangt ferner nicht, dass sich die mittelbaren Wirkungen der
geldpolitischen Programme nur aus unvorhersehbaren oder nicht in Betracht
gezogenen Umständen ergeben dürfen. Die Vorhersehbarkeit einer bestimmten
wirtschaftlichen Wirkung eines geldpolitischen Programms kann nicht, wie
nachstehend näher ausgeführt wird, dazu führen, dass diese Maßnahmen als im
Wesentlichen wirtschaftliche Maßnahmen eingestuft werden. Keine Stütze findet
ferner die – folglich voreilige – Schlussfolgerung des Bundesverfassungsgerichts,
dass die EZB das Vorliegen grundlegender wirtschaftlicher Wirkungen beim
PSPP intendiert oder zumindest bewusst in Kauf genommen habe, so dass daraus
geschlossen werden könne, dass diese Wirkungen zumindest ebenso wichtig sind
wie die verfolgten geldpolitischen Ziele.
85. Nicht
gefolgt
werden
kann
ferner
der
Ansicht
des
Bundesverfassungsgerichts, dass das unionsrechtliche Prinzip der (begrenzten)
Einzelermächtigung in Verbindung mit der Notwendigkeit „restriktiver Auslegung
des Mandats der EZB“ eine besonders strenge gerichtliche Kontrolle erfordere93.
90
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 52.
91
A.a.O., Rn. 59.
92
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 119.
93
A.a.O., Rn. 119.
36
WEISS U. A.
Auch hier findet die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts keine Stütze
in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und, würde ihr gefolgt, ergäbe sich ein
klares Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Unabhängigkeit und zum der EZB
zuerkannten technischen Ermessen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die
Verträge zwar den Begriff „Geld- oder Währungspolitik“ nicht definieren, es in
Art. 132 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich AEUV jedoch heißt, dass von der EZB
„Beschlüsse
[Or. 50] erlassen [werden], die zur Erfüllung der dem ESZB …
übertragenen Aufgaben erforderlich sind“ (eine identische Formulierung findet
sich in der institutionellen Bestimmung des Art. 282 Abs. 4 AEUV). Der Begriff
„Beschlüsse …, die … erforderlich sind“, oder „erforderliche[] Maßnahmen“
begründet eine sehr weite Beurteilungsbefugnis. Außerdem setzt die Natur der
Währungspolitik, deren Instrumente in den Verträgen nicht genannt werden,
hochkomplexe technische Beurteilungen und die Befähigung, zwischen
verschiedenen Alternativen zu wählen, voraus, die mit dem Unabhängigkeitsstatus
der EZB zusammenhängt (vgl. Art. 282 Abs. 3 AEUV).
86. Hinsichtlich der kritischen Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts,
dass es angesichts der „erheblichen wirtschaftspolitischen Effekte … fraglich [ist],
ob
die
gewählten
Maßnahmen
zur
Erreichung
der
angegebenen
währungspolitischen Zielsetzung noch verhältnismäßig sind“94, ist anzumerken,
dass der Gerichtshof im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des
Vorgehens der EZB im Urteil Gauweiler darauf hingewiesen hat, dass „dem
ESZB, da es bei der Ausarbeitung und Durchführung eines Programms für
Offenmarktgeschäfte, wie [dem OMT-Programm], Entscheidungen technischer
Natur treffen und komplexe Prognosen und Beurteilungen vornehmen muss, in
diesem Rahmen ein weites Ermessen einzuräumen [ist]“95. Zudem steht fest, dass
nach Ansicht des Gerichtshofs der Überprüfung der Begründungspflicht große
Bedeutung zukommt; es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass die EZB beim
PSPP, das sich aus einer Reihe von von der EZB gebührend begründeten
Rechtsakten zusammensetzt, weniger strenge Kriterien angewandt hätte als die,
die dem Gerichtshof beim OMT-Programm genügt haben, bei dem die
gerichtliche Kontrolle sich auf eine Ankündigung mittels einer Pressemitteilung
der EZB bezog.
87. Da die EZB, wie der Gerichtshof im Urteil Gauweiler festgestellt hat, im
Rahmen der im Vertrag vorgesehenen Ziele und Instrumente bei der Festlegung
von währungspolitischen Interventionen über ein weites Ermessen verfügt, wäre
das PSPP nur dann ungültig, wenn festgestellt würde,
[Or. 51] dass die Analyse
der EZB hinsichtlich des Kontexts und der geldpolitischen Herausforderungen
während der Durchführung des PSPP „mit einem offensichtlichen
Beurteilungsfehler“ behaftet ist96. Es gibt keinen Hinweis, auch nicht seitens des
94
A.a.O., Rn. 122.
95
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 68.
96
A.a.O., Rn. [74].
37
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
vorlegenden Gerichts, der auf das Vorliegen eines solchen offensichtlichen
Beurteilungsfehlers schließen ließe, auch keinen Hinweis auf einen Mangel an
Sorgfalt bei der Analyse und technischen Vorbereitung der EZB bei der
Festlegung des Programms angesichts der bestehenden Herausforderungen.
88. Da die Unionsbehörden nach der Rechtsprechung der Union über ein weites
Ermessen verfügen, wenn es darum geht, Entscheidungen technischer Natur zu
treffen und komplexe Prognosen und Beurteilungen vorzunehmen, muss sich die
Kontrolle durch den Unionsrichter „auf die Prüfung beschränken, ob die
Ausübung dieses Ermessens nicht [mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler
oder Ermessensmissbrauch behaftet ist]“ oder ob die Unionsorgane „nicht
offensichtlich die Grenzen ihres Ermessensspielraums [überschritten haben]“. In
einem solchen Kontext darf der Unionsrichter „nämlich nicht seine Beurteilung …
an die Stelle derjenigen der [Unionsorgane] setzen, denen allein der [Vertrag]
diese Aufgabe anvertraut hat (vgl. Urteil vom 15. Oktober 2009, Enviro Tech
[Europe], C-425/08, Rn. 47)97. Wie bereits ausgeführt, liegt im vorliegenden Fall,
angesichts der Tatsache, dass die Beurteilung der Lage und die ergriffenen
Maßnahmen einer plausiblen Einschätzung der tatsächlichen Umstände und der
rechtlichen Anforderungen entsprechen, kein eindeutiger Fehler seitens der EZB
vor, was die Konzeption des PSPP als zur Erreichung seiner Ziele geeignetes
währungspolitisches Programm angeht.
89. Was das Bundesverfassungsgericht zu stören scheint, ist vielmehr lediglich
der Umstand, dass das PSPP wirtschaftliche Wirkungen nach sich zieht, die nach
Ansicht dieses Gerichts
[Or. 52] relevant sind. Wie bereits ausgeführt, ist der
Gerichtshof jedoch nicht der Auffassung, dass dies ein Problem darstellt, da es in
Art. 127 Abs. 1 AEUV heißt, dass, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles
der Preisstabilität möglich ist, „das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der
Union [unterstützt], um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die
Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen“. Dieser Verweis auf
das „sekundäre Ziel“ oder parallele Ziel, die allgemeine Wirtschaftspolitik der
Union zu unterstützen, zieht sich im Übrigen durch den gesamten Vertrag über die
Arbeitsweise der Europäischen Union, der in den relevanten Bestimmungen (z. B.
Art. 282 Abs. 2 AEUV) stets beide Ziele gemeinsam nennt. Zudem heißt es in
Art. 3 EUV, auf den Art. 127 Abs. 1 AEUV verweist, dass es Ziel der Union ist,
„auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen
Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität [hinzuwirken]“98.
97
Nach der gerichtlichen Auslegung ist unter einem offensichtlichen Beurteilungsfehler, der die
Gültigkeit eines Entscheidungsakts beeinträchtigen kann, ein eindeutiger Fehler zu verstehen,
der auf den ersten Blick erkennbar ist: „der Begriff ‚offensichtlich‘ [setzt] einen Verstoß gegen
Rechtsvorschriften voraus …, der so schwerwiegend ist, dass er sich als Folge eines eindeutigen
Irrtums bei der Würdigung der Lage, die zu der Entscheidung geführt hat, im Hinblick auf die
Bestimmungen des Vertrags erweist“ (vgl. Urteil des Gerichts vom 24. September 1996,
NALOO, T-57/91, Rn. 111).
98
Durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union wurde ferner dem ESZB der
Auftrag erteilt, zur Stabilität des Finanzsystems beizutragen (z. B. Art. 127 Abs. 5 AEUV). In
38
WEISS U. A.
90. Der verfassungsrechtliche Rahmen der Europäischen Union unterstützt ein
Verständnis der währungspolitischen und wirtschaftlichen Wirkungen von
Programmen wie dem PSPP in einem Sinne, der das Bestehen eines Verhältnisses
möglicher und gegenseitiger Verstärkung favorisiert. Hierzu steht die vom
Bundesverfassungsgericht vertretene Ansicht eindeutig im Widerspruch, dass eine
angemessene Verfolgung des Ziels der Preisstabilität nur dann mit
wirtschaftlichen Auswirkungen einhergehen könne, wenn diese einen reinen
Nebeneffekt darstellten. Dies käme einer Verkehrung des Sinns der Ziele und
Prioritäten des ESZB, wie sie im Vertrag festgelegt sind, gleich, da die
Preisstabilität und die Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Union
zueinander in Gegensatz gestellt würden (statt miteinander verbunden zu werden).
91. Im
Übrigen
ist
die
Ambiguität
des
Standpunkts
des
Bundesverfassungsgerichts in dieser Angelegenheit offensichtlich, da dieses
Gericht das PSPP als wirtschaftliches Programm
[Or. 53] bezeichnet, weil es zur
Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und zur Erhöhung der Bonität der
Kreditinstitute
des
Euroraums
beiträgt,
während
es
im
selben
Vorabentscheidungsersuchen zuvor bereits eindeutig anerkannt hat, dass „die
Erhöhung der Liquidität der Geschäftsbanken und ihrer Kunden [durch das PSPP]
als taugliches Zwischenziel auf dem Weg zur Beeinflussung der Preissteigerung in
Betracht“ kommt99. In diesem Kontext ist die Schlussfolgerung des
Bundesverfassungsgerichts, dass beim PSPP eine „wirtschaftspolitische
Präponderanz“ herrsche100, vorschnell und beruht nicht auf einer umfassenden
Würdigung.
92. Was
die
Wirkung
des
PSPP
auf
die
Verbesserung
der
Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten des Euroraums anbelangt, hat
der Gerichtshof im Urteil Gauweiler festgestellt, dass trotz bestimmter in das
fragliche Programm eingefügter Garantien das Tätigwerden des ESZB geeignet
sei, „einen gewissen Einfluss auf die Funktionsweise des Primärmarkts und der
Sekundärmärkte für Staatsanleihen auszuüben“, auch wenn dieser Umstand nicht
als entscheidend angesehen wurde, „weil dieser Einfluss … eine Wirkung ist, die
den vom AEU-Vertrag erlaubten Ankäufen an den Sekundärmärkten inhärent ist.
Im Übrigen ist diese Wirkung unerlässlich, um solche Ankäufe im Rahmen der
Geldpolitik wirksam einsetzen zu können“101.
93. Was die Rüge der fehlenden Verhältnismäßigkeit des PSPP, namentlich im
Hinblick auf dessen Dauer von mehr als zwei Jahren und die Ankaufbeträge des
dieser Bestimmung heißt es: Das ESZB „trägt zur reibungslosen Durchführung der von den
zuständigen Behörden auf dem Gebiet der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität
des Finanzsystems ergriffenen Maßnahmen bei“.
99
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 117 und 120.
100
A.a.O., Rn. 120.
101
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 108.
39
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Eurosystems, angeht, scheint das Bundesverfassungsgericht jedenfalls die
insbesondere in jüngerer Zeit an dem Programm vorgenommenen Anpassungen
nicht hinreichend berücksichtigt zu haben, bei denen die (vorstehend eingehender
beschriebene) Tendenz zu einer graduellen Reduzierung der Ankaufvolumina im
Rahmen des APP und insbesondere des PSPP verstärkt wurde.
94. Die Bezugnahme auf bestimmte wirtschaftliche Daten durch das
Bundesverfassungsgericht spiegelt ferner nicht in angemessener Weise das
Refinanzierungsverhalten der
[Or. 54] Mitgliedstaaten des Euroraums nach der
Billigung
des
PSPP
wieder.
Nach
den
Ausführungen
des
Bundesverfassungsgerichts sind sich die Mitgliedstaaten des Euroraums „über die
durch die Anleihekäufe bewirkte Verbesserung ihrer Refinanzierungsbedingungen
im Klaren“, wobei in diesem Kontext für die EZB „vorhersehbar sein [dürfte],
dass die Staaten ihre Neuverschuldung erhöhen werden, um durch
Investitionsprogramme die Wirtschaft in Schwung zu bringen; das ist … auch
überwiegend geschehen“102. Es ist jedoch zu beachten, dass sich der Gesamtbetrag
der verbrieften Verschuldung im Euroraum seit der Billigung des PSPP, in
Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgedrückt, nicht erhöht hat, was bedeutet,
dass es (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) keinen Anstieg von Neuemissionen
gegeben hat103.
95. Im besonderen Fall Portugals widersprechen die in Bezug auf die
Entwicklungsmuster der Emissionen von staatlichen Anleihen verfügbaren Daten
den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts. So ist die Bruttoemission
(gross issuance) von Schuldverschreibungen mit der „Rückkehr zum Markt“ – in
der Folge des Abschlusses des Programa de Assistência Económica e Financeira
(Programm zur wirtschaftlichen und finanziellen Unterstützung – PAEF) – im
Jahr 2015 im Vergleich zu 2014 gestiegen, hat jedoch die Beträge aus der Zeit vor
der Krise nicht überstiegen (beispielshalber werden die Angaben von 2010
zugrunde gelegt). Die Nettoemission (net issuance) von Schuldverschreibungen
hat mit der „Rückkehr zum Markt“ im Jahr 2015 im Vergleich zu 2014
zugenommen und die Beträge aus der Zeit vor der Krise (2010) geringfügig
überschritten. Im nachfolgenden Zeitraum von 2015 bis 2017 war sowohl auf der
Ebene der Bruttoemission (d. h., der Neuausgabe von im betreffenden Jahr
fälligen Anleihen), als auch auf der Ebene der Nettoemission (d. h., der
Neuemissionen) ein Rückgang der Emission von Anleihen zu beobachten.
Tatsächlich fand während des Geltungszeitraums des PSPP (von 2015 bis 2017)
ein Rückgang der durchgeführten Emissionen (d. h., Neuemissionen) statt. Zur
angeblichen Verlängerung der Laufzeit der von den Mitgliedstaaten des
Euroraums ausgegebenen Anleihen ist darauf hinzuweisen, dass im Fall Portugals
[Or. 55] angesichts der Entwicklung der durchschnittlichen Laufzeit der jedes
Jahr ausgegebenen mittel- und langfristigen Schuldverschreibungen festzustellen
102
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 121.
103
http://sdw.ecb.europa.eu/quickview.do?SERIES_KEY=325.GFS.M.N.I8.WO.S13.S1.N.L.LE.F
3.T._Z.XDC_R_B1GQ_CY._T.F.V.N._T.
40
WEISS U. A.
ist, dass diese Laufzeit im Jahr 2017 kürzer war als vor der Billigung des PSPP
(2014). Genauer gesagt, hat sich die durchschnittliche Laufzeit der mittel- und
langfristigen Schuldverschreibungen im Jahr 2015 vorübergehend verlängert und
in den Folgejahren wieder reduziert. Zudem ist das Emissionsvolumen, wie bereits
ausgeführt, während der Jahre der Geltung des PAEF nicht signifikant104.
96. Abschließend ist auf die Rüge des Bundesverfassungsgerichts einzugehen,
dass es auch „an einer spezifischen Begründung in den Beschlüssen [fehlt], die die
Grundlage des [PSPP] und seines Vollzugs bilden“105. Zunächst ist die
Feststellung des Gerichtshofs im Urteil Gauweiler relevant, dass „zu beachten
[ist], dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch Art. 296
Abs. 2 AEUV vorgeschriebene Begründung eines Rechtsakts der Union zwar die
Überlegungen des Urhebers dieses Rechtsakts so klar und eindeutig zum
Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene
Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann,
jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte
enthalten muss“. Weiter führt der Gerichtshof aus, dass „[d]ie Beachtung der
Begründungspflicht … im Übrigen nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts
zu beurteilen [ist], sondern auch anhand seines Kontexts und sämtlicher
Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln“106.
97. Vor diesem Hintergrund erweisen sich die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Begründungsanforderungen als übermäßig streng oder sogar
teilweise unerfüllbar, insbesondere wenn es ausführt, dass die EZB zwar
fortlaufend die Relevanz des PSPP für die Erreichung des von ihr angestrebten
Inflationsziels betont habe, „[e]ine nähere Begründung für
[Or. 56] Erforderlichkeit, Ausmaß und Dauer der wirtschaftspolitischen Effekte des
Programms … jedoch nicht gegeben [hat]; insbesondere fehlt es an einer
Abwägung der beabsichtigten währungspolitischen Wirkungen des PSPP mit den
zu erwartenden zusätzlichen wirtschaftspolitischen Effekten“107. Es ist sehr
schwer, die Wirkungen des PSPP von anderen Faktoren im Zusammenhang mit
der Währungspolitik (z. B. Versprechen von niedrigen Zinssätzen während einer
längeren Zeit, sogenanntes „forward guidance“) und der Entwicklung des
makroökonomischen Kontextes zu isolieren. Es wurden jedoch einige Artikel
veröffentlicht, insbesondere im Rahmen von Working Papers der EZB, die mittels
empirischer Daten die makroökonomischen Auswirkungen des Programms
dokumentieren. Ferner gibt es einige Veröffentlichungen theoretischer Natur, die
die verschiedenen Kanäle aufzeigen, über die sich die Ankäufe von
Vermögenswerten in großem Maßstab durch die Zentralbank auf die
104
Vgl. Monatsbericht/Monthly Bulletin, Staatsverschuldung/Public Debt, Oktober/October 2017,
des Instituto de Gestão da Tesouraria e da Dívida Pública.
105
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 123.
106
Urteil Gauweiler (C-62/14), Rn. 70.
107
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 123.
41
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Makroökonomie auswirken108. Im Allgemeinen sprechen die Ergebnisse für eine
positive, wenn auch nicht immer sehr signifikante, Wirkung des APP auf die
Inflation. Die Erfahrungen der Vereinigten Staaten von Amerika und des
Vereinigten Königreichs in Bezug auf die Auswirkungen des „quantitative easing“
sind ähnlich, und es erscheint normal, dass die EZB sich möglicherweise durch
diese Beispiele gestützt sieht109.
98. Zudem ist der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass die
Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem eine Beendigung des Programms zu erwarten
ist, zumindest erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht wird, im Zusammenhang
damit zu sehen, dass es Sache der EZB ist, eine ständige Beurteilung hinsichtlich
der Bedingungen der Durchführung des Programms und
[Or. 57] der Erreichung
der Ziele des Programms vorzunehmen, wobei feststeht, dass, wie bereits
ausgeführt, das APP (und insbesondere das PSPP) schrittweise reduziert wurde.
Im Übrigen werden sich die monatlichen Ankäufe im Rahmen des APP von
Januar 2018 bis September 2018 nach dem Beschluss des EZB-Rates vom 26.
Oktober 2017 auf 30 Milliarden Euro belaufen.
iv)
Vorschlag für eine Antwort auf die dritte und die vierte
Vorlagefrage
99. Infolge der vorstehenden Erwägungen sind wir der Ansicht, dass der
Gerichtshof die dritte Vorlagefrage dahin beantworten sollte, dass die Beschlüsse,
die die EZB im Rahmen des PSPP erlassen hat, weder gegen die Art. 119 und 127
Abs. 1 und 2 AEUV, noch gegen die Art. 17 bis 24 der Satzung des ESZB und der
EZB verstoßen, da sie nicht über das in diesen Vorschriften geregelte Mandat der
EZB zur Währungspolitik hinausgehen und nicht in die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten übergreifen. Die vierte Vorlagefrage sollte im selben Sinne
beantwortet werden, d. h., dahin, dass das Volumen und der mehr als zwei Jahre
dauernde Vollzug des PSPP sowie die sich hieraus ergebenden indirekten
wirtschaften Auswirkungen keinen Missbrauch des währungspolitischen Mandats
der EZB darstellen, da es Sache der EZB ist, die Erforderlichkeit und die
Verhältnismäßigkeit des Programms zu beurteilen, und zwar selbstverständlich
solange dieses läuft.
108
Carlo Altavilla, Giacomo Carboni and Roberto Motto, Asset purchase programmes and financial
markets: lessons from the euro area, Working Paper Series (ECB), No 1864/November 2015.
Online abrufbar unter:
https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecbwp1864.en.pdf. Philippe
Andrade, Johannes Breckenfelder, Fiorella De Fiore, Peter Karadi, Oreste Tristani, The ECB's
asset purchase programme: an early assessment, Working Paper Series (ECB), No
1956/September
2016.
Online
abrufbar
unter:
https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecbwp1956.en.pdf. Luca Gambetti, Alberto Musso,
The macroeconomic impact of the ECB's expanded asset purchase programme (APP), Working
Paper
Series
(ECB),
No
2075,
June
2017.
Online
abrufbar
unter:
http://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecb.wp.2075.en.pdf.
109
Martin Weale, Tomasz Wieladek, What are the macroeconomic effects of asset purchases?
Journal of Monetary Economics, Volume 79, May 2016, Pages 81-93. Online abrufbar unter:
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0304393216300101.
42
WEISS U. A.
C.
Angemessenheit der Regelung der Risikoverteilung
i)
Begründung des Bundesverfassungsgerichts
100. Mit seiner fünften und letzten dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung
vorgelegten Frage, möchte das Bundesverfassungsgericht wissen, inwieweit „die
[im Beschluss über das PSPP] möglicherweise angelegte unbegrenzte
Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der Zentralregierungen und ihnen
gleich gestellter Emittenten zwischen den nationalen Zentralbanken des
Eurosystems“ gegen
[Or. 58] Art. 123 und Art. 125 AEUV110 sowie gegen Art. 4
Abs. 2 EUV verstößt, „wenn dadurch eine Rekapitalisierung nationaler
Zentralbanken mit Haushaltsmitteln erforderlich werden kann“111.
101. Laut dem Bundesverfassungsgericht ist diese Frage „entscheidungserheblich
insoweit, als die Beschwerdeführer die Untätigkeit von Bundestag und
Bundesregierung mit Blick auf eine mögliche Verletzung der Verfassungsidentität
im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG rügen, weil das PSPP zu erheblichen Risiken für
den Bundeshaushalt führe und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des
Deutschen Bundestages berühre“112.
102. Im Rahmen der näheren Erläuterung des festgestellten Risikos führt das
Bundesverfassungsgericht zunächst aus, dass „[d]er Ankauf von Staatsanleihen
durch das Eurosystem … grundsätzlich geeignet [ist], zu haushaltsbedeutsamen
Ausgaben oder Einnahmeausfällen zu führen“. Wie der Gerichtshof im Urteil
Gauweiler festgestellt habe, wohne Offenmarktgeschäften „stets ein Verlustrisiko
inne“ (vgl. Urteil des Gerichtshofs, Rn. 125). Bereits ein teilweiser Ausfall der
Staatsanleihen beeinträchtigte „nicht nur den an den Bund abzuführenden
110
Art. 125 Abs. 1 AEUV bestimmt: „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der
Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-
rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher
Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt
unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines
bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der
Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-
rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher
Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein;
dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame
Durchführung eines bestimmten Vorhabens“.
111
Vgl. Vorabentscheidungsersuchen, S. 8.
Art. 4 Abs. 2 EUV sieht vor, dass die Union „die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den
Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität [achtet], die in ihren grundlegenden politischen
und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung
zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die
Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und
den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die
alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten“.
112
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 124.
43
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
Reingewinn …, sondern könnte auch zu einem negativen Eigenkapital der
Deutschen Bundesbank führen. Dies wäre,
[Or. 59] jedenfalls im Falle [seines
Eintritts], geeignet, das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Deutschen
Bundesbank
zu
erschüttern,
das
unabdingbare
Voraussetzung
ihrer
Funktionsfähigkeit ist“. Entsprechendes gelte für die EZB, „für die eine Regelung
der Verlustzuweisung nur [dann] besteht, [wenn] Verluste aus einem allgemeinen
Reservefonds und aus den monetären Einkünften ausgeglichen werden können“
(vgl. Art. 33.2 der Satzung des ESZB und der EZB). Eine Regelung für den
Ausgleich darüber hinausgehender Verluste bestehe hingegen nicht113.
103. Da die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich verpflichtet sei,
die Funktionsfähigkeit der Deutschen Bundesbank zu gewährleisten, könne sie, so
das Bundesverfassungsgericht weiter, wenn diese Funktionsfähigkeit aufgrund
eines nicht hinreichenden oder sogar negativen Nettoeigenkapitals gefährdet sei,
verpflichtet sein, Kapital nachzuschießen114.
104. Nach den Regeln des PSPP werde bei „Schuldtiteln nationaler Emittenten,
die von den nationalen Zentralbanken erworben werden – das heißt bei 80 % der
erworbenen Schuldtitel – … keine Risikoteilung vorgenommen“. Bei denjenigen
Schuldtiteln nationaler Emittenten, die von der EZB erworben würden – d. h.
10 % der erworbenen Schuldtitel – „findet eine Risikoteilung nur über die an die
nationalen
Zentralbanken
auszuschüttenden
Einkünfte
statt
(Art. 32.5
ESZB-Satzung). Verluste der EZB aus Ankäufen im Rahmen des PSPP können
sich bei den nationalen Zentralbanken damit nur insofern auswirken, als die diesen
zustehenden Anteile an den monetären Einkünften gekürzt werden oder ganz
entfallen (Art. 33.2 ESZB-Satzung)“, wobei unklar sei, „was geschieht, wenn die
Anteile am Verlust die Anteile am Gewinn übersteigen sollten“. Hinsichtlich der
von internationalen Emittenten begebenen Anleihen, die im Rahmen des PSPP
erworben würden, „findet eine vollständige Risikoteilung statt“, so dass „Verluste
einer
[Or. 60] nationalen Zentralbank … auf alle nationalen Zentralbanken des
Eurosystems entsprechend dem Kapitalschlüssel verteilt [werden]“115.
105. Was die Auswirkungen für die „Verfassungsidentität“ angeht, führt das
Bundesverfassungsgericht zunächst aus, dass „[derzeit nicht sicher absehbar ist,
o]b auf der Basis dieser Risikoteilung das … Budgetrecht des Deutschen
Bundestages und dessen haushaltspolitische Gesamtverantwortung durch den
PSPP-Beschluss oder seine Umsetzung im Hinblick auf mögliche Verluste der
Deutschen Bundesbank berührt werden können“116. Jedoch käme „[e]ine
113
A.a.O., Rn. 125. Anm. d. Ü.: Die portugiesische Fassung entspricht hier („seines Eintritts“ statt
„seiner Verfestigung“ und „dann … wenn“ statt „insoweit … als“) nicht dem Wortlaut des
Vorabentscheidungsersuchens.
114
A.a.O., Rn. 126.
115
A.a.O., Rn. 127.
116
A.a.O., Rn. 128.
44
WEISS U. A.
Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes … in Betracht, wenn
durch den PSPP-Beschluss ein Mechanismus begründet würde, der auf eine
Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter mit … kalkulierbaren
[schweren] Folgewirkungen hinausliefe …, so dass aufgrund dieses Mechanismus
der Deutsche Bundestag nicht ‚Herr seiner Beschlüsse‘ bliebe und sein
Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben könnte“117.
106. Ferner hätten die Beschwerdeführer (im Ausgangsverfahren) „insoweit
plausibel dargelegt, dass in den rechtlichen Grundlagen des ESZB eine Änderung
der Risikoverteilung [neben] einer gemeinschaftlichen Haftung auch für die 80 %
der angekauften Schuldtitel angelegt sei, die die nationalen Zentralbanken von
nationalen Emittenten ihres eigenen Staates erwerben und für die aktuell eine
gemeinschaftliche Haftung nicht vorgesehen ist“. Es sei nämlich „[b]ei dem
Ausfall von Anleihen einer Zentralregierung … naheliegend, wenn nicht sogar
zwingend, dass der EZB-Rat darauf mit einem Beschluss nach Art. 32.4 ESZB-
Satzung reagiere, der eine volle Risikoteilung bewirke. Das laufe auf eine
Umverteilung von Risiken
[Or. 61] bisher nicht bekannter Größenordnung hinaus,
für die die EZB kein Mandat habe“118.
107. Daher würden eine „unbegrenzte Risikoteilung innerhalb des Eurosystems
und daraus resultierende Risiken für die Gewinn- und Verlustrechnung der
nationalen Zentralbanken … eine Verletzung der Verfassungsidentität im Sinne
von Art. 79 Abs. 3 GG bedeuten, wenn sie eine Rekapitalisierung der nationalen
Zentralbanken mit Haushaltsmitteln in einem Umfang erforderlich machen
können, wie sie der Senat in seiner Rechtsprechung zu EFSF und ESM an die
Zustimmung des Deutschen Bundestages gebunden hat … Es kommt mithin für
den Erfolg der Verfassungsbeschwerden darauf an, ob eine solche Risikoteilung
nach dem Primärrecht ausgeschlossen werden kann“119.
108. Unter Bezugnahme auf Art. 32.4 der Satzung des ESZB und der EZB führt
das Bundesverfassungsgericht ferner aus, dass der EZB-Rat beschließen könne,
dass die nationalen Zentralbanken für spezifische Verluste aus für das ESZB
unternommenen währungspolitischen Operationen entschädigt werden. Das könne
„negative Auswirkungen auf die Gewinn- und Verlustrechnung der nationalen
Zentralbanken haben und diese verpflichten, ihre Rückstellungen entsprechend zu
erhöhen“120.
109. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts könnte der Umstand, dass die
Beschlussfassung des EZB-Rats über Art und Umfang der Risikoteilung zwischen
117
A.a.O., Rn. 129. Anm. d. Ü.: Die portugiesische Fassung entspricht hier („kalkulierbaren
schweren“ statt „schwer kalkulierbaren“) nicht dem Wortlaut des Vorabentscheidungsersuchens.
118
A.a.O., Rn. 130. Anm. d. Ü.: Die portugiesische Fassung entspricht hier („neben“ statt „hin zu“)
nicht dem Wortlaut des Vorabentscheidungsersuchens.
119
A.a.O., Rn. 131.
120
A.a.O., Rn. 132.
45
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
den Mitgliedern des ESZB „primärrechtlich kaum determiniert“ ist, „eine
Änderung der Regelungen zur Risikoteilung innerhalb des Eurosystems durch den
EZB-Rat“ ermöglichen, „aus der sich Risiken für die Gewinn- und
Verlustrechnung der nationalen Zentralbanken und darüber hinaus für die
haushaltspolitische Gesamtverantwortung der
[Or. 62] nationalen Parlamente
ergeben können“. Da eine entsprechende Risikoteilung bei früheren Programmen
bereits praktiziert worden sei, „erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der
EZB-Rat auch für den Bereich des PSPP eine volle Risikoteilung beschließen
könnte“121. Vor diesem Hintergrund, so das Bundesverfassungsgericht, „stellt sich
die Frage, ob eine unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der
Zentralregierungen und ihnen gleichgestellter Emittenten zwischen den nationalen
Zentralbanken des Eurosystems gegen Art. 123 und Art. 125 AEUV sowie gegen
Art. 4 Abs. 2 EUV … verstieße“122.
ii)
Würdigung
110. Die vorstehenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zu den auf
das PSPP anwendbaren Regeln spiegeln wider, dass die Risikoteilung im Rahmen
dieses Programms angesichts des Anteils des Programms ohne Risikoteilung
geringe Ausmaße hat. So gilt nur für 20 % der über das PSPP getätigten Ankäufe
das Prinzip der vollständigen Risikoteilung, so dass die übrigen 80 % in die
ausschließliche Verantwortung der nationalen Zentralbank fallen, die die Anleihen
am Sekundärmarkt erwirbt123.
111. Diese Teilung der Haftung – die folglich von der Regel abweicht, dass die
Gewinne und potenziellen Verluste aus den dezentralisierten währungspolitischen
Operationen des Eurosystems (auf einer Proporzgrundlage angesichts der Anteile
der nationalen Zentralbanken am Kapital der EZB, Art. 32.5 der Satzung des
ESZB und der EZB) geteilt werden – ist Ausdruck einer Entscheidung, die unter
Berücksichtigung der Tragweite dieses währungspolitischen Sonderprogramms
getroffen wurde. Die begrenzte Risikoteilung beim PSPP stellt insoweit einen
bedeutenden Unterschied zum OMT-Programm und zum Securities Markets
Programme (SMP) dar, die, da sie die Durchführung von
[Or. 63] Ankäufen
durch das Eurosystem lediglich in bestimmten Staaten des Euroraums umfassten,
eine tatsächliche Risikoteilung im Eurosystem vorsahen124.
112. Ferner überzeugt das Vorbringen, dass beträchtliche Risiken für die
Haushalte der Mitgliedstaaten übernommen würden, nicht, da die Garantien des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich der
Unabhängigkeit der Zentralbanken die finanzielle Unabhängigkeit in dem Sinne
121
A.a.O., Rn. 133.
122
A.a.O., Rn. 134.
123
https://www.ecb.europa.eu/explainers/tell-me-more/html/asset-purchase.de.html.
124
https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2012/html/pr120906_1.en.html.
46
WEISS U. A.
umfassen, dass sowohl die EZB als auch die zum ESZB gehörenden nationalen
Zentralbanken über hinreichende eigene Mittel verfügen müssen, um ihren
Aufgaben und Zuständigkeiten gerecht zu werden. Die finanzielle Unabhängigkeit
umfasst auch die Entscheidungsautonomie in Bezug auf die Verwaltung der
betreffenden Bilanzen, die so vor den Risiken, die die EZB – und die nationalen
Zentralbanken – im Rahmen der Ausübung ihrer Zuständigkeiten eingeht,
schützen sollen. Hierfür wurde dem EZB-Rat nach Art. 26 Abs. 4 der Satzung des
ESZB und der EZB die Zuständigkeit dafür übertragen, die notwendigen
Vorschriften für die Standardisierung der buchmäßigen Erfassung und der
Meldung der Geschäfte der nationalen Zentralbanken zu erlassen. Bei der
Ausübung dieser Zuständigkeit können besondere Bestimmungen und/oder
Vorbehalte festgelegt werden, um vor bestimmten Risiken, wie etwa denjenigen,
die sich aus dem APP ergeben können, zu schützen. Die Gesamtheit der
finanziellen „buffers“ der EZB zum Schutz vor etwaigen Verlusten (einschließlich
Kapital, Rücklagen, risk provision und Neubewertungskonten) wurde erhöht (z. B.
im Jahr 2015 im Vergleich zu 2014), was eine zusätzliche Sicherheit für die
finanzielle Unabhängigkeit des Eurosystems darstellt125.
113. Ferner ist zu klären, in welchem Rahmen die nationalen Zentralbanken
möglicherweise Verluste im Zusammenhang mit dem PSPP übernehmen müssen.
Von den 20 % Ankäufen im Rahmen des PSPP, bei denen es eine Risikoteilung
gibt, bestehen 10 % aus Titeln, die von internationalen Organisationen und
[Or. 64] multilateralen Entwicklungsbanken ausgegeben werden, und die übrigen
10 % entsprechenden den Ankäufen durch die EZB von Titeln, die von
Zentralregierungen und anerkannten Organen in zugelassenen Hoheitsgebieten im
Euroraum ausgegeben werden. Wie das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf
Schuldtitel nationaler Emittenten, die von der EZB erworben werden, ausführt,
können sich „Verluste der EZB aus Ankäufen im Rahmen des PSPP … bei den
nationalen Zentralbanken … nur insofern auswirken, als die diesen zustehenden
Anteile an den monetären Einkünften gekürzt werden oder ganz entfallen (Art.
33.2 ESZB-Satzung)“126. Jedenfalls heißt es im genannten Artikel der Satzung des
ESZB und der EZB: „Falls die EZB einen Verlust erwirtschaftet, kann der
Fehlbetrag aus dem allgemeinen Reservefonds der EZB und erforderlichenfalls
nach einem entsprechenden Beschluss des EZB-Rates aus den monetären
Einkünften des betreffenden Geschäftsjahres im Verhältnis und bis in Höhe der
Beträge gezahlt werden, die nach Artikel 32.5 an die nationalen Zentralbanken
verteilt werden“. Dies bedeutet, dass etwaige Verluste der EZB, die sich aus dem
PSPP ergeben, stets gedeckt wären, erstens durch die Bilanzen der EZB und,
hilfsweise, auf Kosten der monetären Einkünfte der nationalen Zentralbanken. Als
letztes Mittel müssten diese eventuell noch bestehende Verluste decken.
125
Vgl.
Jahresbericht
der
EZB
(2015).
Online
abrufbar
unter:
https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/annrep/ar2015de.pdf?621c7eaa8650421bb6dlela75c6a9059.
126
Vorabentscheidungsersuchen, Rn. 127.
47
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
114. Wie bereits dargelegt, beruht die fünfte Vorlagefrage im Wesentlichen auf
einer Frage, die durch Art. 32.4 Abs. 2 der Satzung des ESZB und der EZB
aufgeworfen wird. Nach diesem Artikel kann der EZB-Rat „beschließen, dass die
nationalen Zentralbanken für Kosten in Verbindung mit der Ausgabe von
Banknoten oder unter außergewöhnlichen Umständen für spezifische Verluste aus
für das ESZB unternommenen währungspolitischen Operationen entschädigt
werden. Die Entschädigung erfolgt in einer Form, die der EZB-Rat für
angemessen hält; diese Beträge können mit den monetären Einkünften der
nationalen Zentralbanken verrechnet werden“. Angesichts dieser Bestimmung, die
eine reine Möglichkeit in Ausnahmesituationen vorsieht,
[Or. 65] von der das
zuständige Organ bei dieser Art von Entscheidungen Gebrauch machen kann,
zeigt sich, dass den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gefolgt
werden kann, wonach die „Beschwerdeführer … insoweit plausibel dargelegt
[haben], dass in den rechtlichen Grundlagen des ESZB eine Änderung der
Risikoverteilung [neben] einer gemeinschaftlichen Haftung auch für die 80 % der
angekauften Schuldtitel angelegt sei, die die nationalen Zentralbanken von
nationalen Emittenten ihres eigenen Staates erwerben und für die aktuell eine
gemeinschaftliche Haftung nicht vorgesehen ist“127.
115. Auch die Feststellung, dass es beim „Ausfall von Anleihen einer
Zentralregierung … naheliegend, wenn nicht sogar zwingend [sei], dass der EZB-
Rat darauf mit einem Beschluss nach Art. 32.4 ESZB-Satzung reagiere, der eine
volle Risikoteilung bewirke“128, erscheint übereilt. Die genannte Bestimmung
räumt dem EZB-Rat zwar einen Ermessensspielraum in diesem Bereich ein. In
diesem Artikel sind jedoch Bedingungen für etwaige Entschädigungen gegenüber
den nationalen Zentralbanken für spezifische Verluste aus für das ESZB
unternommenen währungspolitischen Operationen (unter außergewöhnlichen
Umständen) festgelegt, und jedenfalls könnte ein entsprechender Beschluss des
EZB-Rates, wenn er erginge, vom Gerichtshof überprüft werden, der in diesem
Fall dafür zuständig wäre, eine angemessene und sachdienliche Prüfung der
Vereinbarkeit des Beschlusses mit den Rechtsvorschriften der Union und des
ESZB vorzunehmen.
116. Es ist jedoch unnötig und sogar unangemessen, den Gerichtshof zu ersuchen,
von vornherein die Möglichkeit eines etwaigen Beschlusses auszuschließen, der
eine „Vergemeinschaftlichung der Risiken“ des PSPP umfasst, ohne dass ein
solcher Beschluss existiert und somit, ohne dass es möglich wäre, die konkreten
Grundlagen und die Einzelheiten dieses hypothetischen Beschlusses zu prüfen. Es
überrascht daher, dass das vorlegende Gericht ausführt, dass es für den Erfolg der
Verfassungsbeschwerde darauf ankomme, dass eine (unbegrenzte) Risikoteilung
innerhalb des Eurosystems beim
[Or. 66] PSPP nach dem Primärrecht als
127
A.a.O., Rn. 130. Anm. d. Ü.: siehe auch die Anmerkung in Fn. 118.
128
A.a.O.
48
WEISS U. A.
ausgeschlossen angesehen werden könne, wo doch kein Hinweis darauf vorliegt,
dass ein solcher Fall zu prüfen oder zu verfolgen wäre129.
117. Der Gerichtshof ist nicht dafür zuständig, über hypothetische Fälle zu
entscheiden, und es liegen keine Rechtsakte vor, die für die hier in Rede
stehenden Zwecke einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könnten (noch
nicht einmal Vorbereitungsakte, die auf einen künftigen und vorhersehbaren
Erlass solcher Rechtsakte hinweisen könnten). Dass das OMT-Programm und das
SMT mit einer vollständigen Risikoteilung konzipiert oder angewendet wurden,
spielt insoweit keine Rolle, da es sich dabei, wie bereits dargelegt, um
unabhängige und unterschiedliche Programme handelt.
118. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Marktgeschäfte zwar
unvermeidlich mit einer Reihe von Risiken, insbesondere Markt- und
Kontrahentenrisiken, verbunden sind, die EZB jedoch eine Reihe von Maßnahmen
zur Eindämmung dieser Risiken in das PSPP eingefügt hat, darunter z. B. die
Festlegung von Mindestanforderungen für die Zulassung und hinsichtlich der
Bonität zum Zeitpunkt des Erwerbs, die Diversifikation durch die Einbeziehung
verschiedener Hoheitsgebiete, die Festlegung von Ankaufgrenzen in Bezug auf
Emission und Emittent, das Bestehen von Maßnahmen zur ständigen
Abschwächung des Kreditrisikos sowie die für das Eurosystem bestehende
Möglichkeit, zusätzliche Maßnahmen zur Abschwächung des Risikos
anzuwenden, falls und soweit dies als erforderlich erachtet wird.
iii)
Vorschlag für eine Antwort auf die fünfte Vorlagefrage
119. Angesichts der vorstehenden Erwägungen sind wir der Ansicht, dass der
Gerichtshof die fünfte Vorlagefrage dahin beantworten sollte, dass im Rahmen
des PSPP keine unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der
Zentralregierungen und
[Or. 67] ihnen gleich gestellter Emittenten zwischen den
nationalen Zentralbanken des Eurosystems besteht, weshalb es nicht gerechtfertigt
ist, sich in diesem Fall auf einen Verstoß gegen die Art. 123 und 125 AEUV
sowie gegen Art. 4 Abs. 2 EUV zu berufen, da aufgrund dieses Umstands keine
Rekapitalisierung nationaler Zentralbanken mit Haushaltsmitteln erforderlich ist.
IV. Ergebnis
120. Angesichts des Vorstehenden und aus den dargelegten Gründen schlägt die
portugiesische
Regierung
dem
Gerichtshof
vor,
die
vom
Bundesverfassungsgericht (Deutschland) vorgelegten Fragen in folgendem Sinne
zu beantworten:
1.
Die Art. 123, 119, 125 und 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind
129
A.a.O., Rn. 131.
49
ERKLÄRUNGEN PORTUGALS – RECHTSSACHE C-493/17
dahin auszulegen, dass sie dem Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede
stehenden Beschlusses (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März
2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors
an den Sekundärmärkten (EZB/2015/10) in der Fassung des Beschlusses (EU)
2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 zur Änderung
des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von
Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/33),
des Beschlusses (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 18. April
2016 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum
Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten
(EZB/2016/8) sowie des Beschlusses (EU) 2016/1041 der Europäischen
Zentralbank vom 22. Juni 2016 über die Notenbankfähigkeit der von der
Hellenischen Republik begebenen oder in vollem Umfang garantierten
marktfähigen Schuldtitel und zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2015/300
(EZB/2016/18) beziehungsweise der Art und Weise seiner Ausführung nicht
entgegenstehen. [Or. 68]
2.
Die Art. 119 und 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen
Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind dahin
auszulegen, dass sie dem Erlass des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden
Beschlusses (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015
nicht entgegenstehen, der nicht über das in diesen Vorschriften geregelte Mandat
der EZB zur Währungspolitik hinausgeht und nicht in die Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten übergreift.
3.
Die Art. 119 und 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen
Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind dahin
auszulegen, dass das Volumen und der mehr als zwei Jahre dauernde Vollzug des
PSPP sowie die sich hieraus ergebenden mittelbaren wirtschaftlichen
Auswirkungen keinen Missbrauch des Mandats der EZB zur Währungspolitik
darstellen und es Sache der EZB ist, die Erforderlichkeit und die
Verhältnismäßigkeit des Programms zu beurteilen, solange dieses angewendet
wird.
4.
Die Art. 123 und 125 AEUV sowie Art. 4 Abs. 2 EUV sind dahin auszulegen,
dass sie einem Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors
(Public Sector Asset Purchase Programme) wie dem im Ausgangsverfahren in
Rede stehenden nicht entgegenstehen, bei dem keine unbegrenzte Risikoverteilung
bei Ausfällen von Anleihen der Regierungen und ihnen gleich gestellter
Emittenten zwischen den nationalen Zentralbanken des Eurosystems besteht und
keine
Rekapitalisierung
nationaler Zentralbanken
mit
Haushaltsmitteln
erforderlich ist. [Or. 69]
Die Bevollmächtigten der Portugiesischen Republik
50
WEISS U. A.
Luís Inez Fernandes Miguel Figueiredo Tiago Larsen Pedro Machado
… [nicht übersetzt; Vermerk über die elektronische Signatur]
51