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EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 9.6.2021
INFR(2021)2114
C(2021)4251 final
Sehr geehrter Herr Bundesminister,
ich möchte Sie auf folgende Situation hinweisen. Das Bundesverfassungsgerichts hat am
5. Mai 2020 sein Urteil in den zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen
Verfassungsbeschwerden mit den Aktenzeichen 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR
2006/15 und 2 BvR 980/16 („Urteil des Bundesverfassungsgerichts“) verkündet.
1
In Punkt 3 des Urteilstenors stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die
Bundesregierung und der Deutsche Bundestag gegen das Grundgesetz verstoßen haben,
da sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass der Rat der
Europäischen Zentralbank im Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank
vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen
Sektors an den Sekundärmärkten (Public Sector Asset Purchase Programme,
EZB/2015/10, ABl EU Nr. L 121 vom 14. Mai 2015, S. 20, „PSPP-Beschluss“), weder
geprüft noch dargelegt hat, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Die Urteilsgründe, die Punkt 3 des Tenors tragen, und die gemäß § 31
Bundesverfassungsgerichtsgesetz für die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder
sowie alle Gerichte und Behörden bindend sind,
2 finden sich in den Abschnitten des
Urteils, welche die Auswirkungen der Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts für
die beklagten Verfassungsorgane Bundesregierung und Deutscher Bundestag darlegen
(Abschnitte C.II.5 und C.II.6 des Urteils, Randziffern 229 bis 235). Diese Feststellungen
wiederum basieren auf der vorangehenden Feststellung des Bundesverfassungsgerichts,
dass das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union („Gerichtshof“) vom 11.
1 DE:BVerfG:2020:rs20200505.2bvr085915, verfügbar unter
http://www.bverfg.de/e/rs20200505_2bvr085915.html
2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, veröffentlicht am 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), zuletzt
geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 8. Oktober 2017 (BGBl. I. S. 3546).
Seiner Exzellenz Herrn Heiko MAAS
Bundesminister des Auswärtigen
Werderscher Markt 1
D - 10117 Berlin
Commission européenne, B-1049 Bruxelles – Belgique
Europese Commissie, B-1049 Brussel – België
Telefon: 00 32 (0) 2 299.11.11
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Dezember 2018 in der Rechtssache C-493/17,
Weiss und andere (EU:C:2018:1000) („das
Weiss-Urteil des Gerichtshofs“) einen Ultra-vires-Akt darstellt (Abschnitt C.II.1.a des
Urteils des Bundesverfassungsgerichts, Randziffern 118 bis 163) und dass auch der
PSPP-Beschluss einen Ultra-vires-Akt darstellt (Abschnitt C.II.1.b des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts, Randziffern 164 bis 178).
Demgemäß stellt das Bundesverfassungsgericht in Randziffer 163 seines Urteils fest,
dass das
Weiss-Urteil des Gerichtshofes „
in Deutschland insoweit keine
Bindungswirkung entfaltet“ (Hervorhebung der Kommission).
Zweitens stellt das Bundesverfassungsgericht in Randziffer 178 seines Urteils fest, dass
der PSPP-Beschluss „
als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren ist“. In Randziffer 234 des
Urteils stellt es weiterhin fest: „
Soweit das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat,
dass eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der
Europäischen Union die durch das Integrationsprogramm in Verbindung mit Art. 23
Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gezogenen Grenzen überschreitet, hat sie als
Ultra-vires-Akt am Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht teil. Sie ist in
Deutschland unanwendbar und entfaltet für deutsche Verfassungsorgane, Behörden und
Gerichte keine Wirkung.“ (Hervorhebung der Kommission)
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die europäische Zentralbank am
3. Juni und am 4. Juni 2020 mehrere Beschlüsse gefasst und im Anschluss daran weitere
Auskünfte in Bezug auf das PSPP veröffentlicht. Daraufhin haben sowohl der Bundestag
und die Bundesregierung auf der Grundlage einer Bewertung der Bundesbank bestätigt,
dass sie das PSPP für mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar halten.
Mit Schriftsätzen von August 2020 haben zwei Antragsteller den Erlass einer
Vollstreckungsanordnung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts beantragt. Die
Antragsteller waren der Auffassung, dass die im vorherigen Absatz beschriebenen
Handlungen nicht ausreichen, um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
nachzukommen. Sie beantragten daher, dass die Bundesregierung und der Bundestag
verpflichtet werden, tätig zu werden um sicherzustellen, dass die Bundesbank sich
weiterer Teilnahme am PSPP enthält. Durch Beschluss vom 29. April 2021, der am
18. Mai 2021 veröffentlicht wurde, verwarf das Bundesverfassungsgericht diese Anträge
als unzulässig bzw. als unbegründet.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein Mitgliedsstaat im Hinblick auf
seine Rechtspflichten, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, als Einheit zu betrachten
und als solches im Sinne des Unionsrechts verantwortlich, ohne dass danach zu
unterscheiden wäre, ob der entsprechende Rechtsakt der Legislative, der Judikative oder
der Exekutive zuzurechnen ist.
3 Was die Judikative betrifft, ist dies besonders wichtig,
um die Entwicklung einer Rechtsprechungslinie in einem Mitgliedstaat zu verhindern,
3 Siehe die Urteile in
Kommission/Frankreich, C-416/17, EU:C:2018:811, Randnrn. 106 und 107; in
Kommission/Spanien, C-154/08, EU:C:2009:695, Randnrn. 124 bis 127; siehe auch das Urteil in
Köbler, C-224/01, EU:C:2003:513, Randnr. 32.
2
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die mit Unionsrecht unvereinbar ist.
4 Die Unionsverträge binden alle Staatsorgane der
Mitgliedsstaaten, und somit auch die Judikative.
5
Insbesondere wirft das Urteil des Bundesverfassungsgerichts schwerwiegende Fragen des
Unionsrechts auf. Angesichts dessen haben die Dienststellen der Kommission das
Gespräch mit den deutschen Behörden über diese Fragen gesucht. Im Anschluss daran
haben sie mit Schreiben vom 23. Februar 2021 die Auffassung vertreten, dass diese
Fragen im Rahmen eines informellen Dialogs zwischen dem Bundesverfassungsgericht
und dem Gerichtshof dahingehend behandelt werden sollten, dass Formen „zukünftiger
justizieller Zusammenarbeit“ ausgelotet werden, einschließlich einer intensiveren
Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 267 AEUV in zukünftigen
Rechtssachen. Auch wenn die Vorschläge der deutschen Behörden nicht in die Tat
umgesetzt wurden, wäre der vorgeschlagene informelle Dialog ohnehin nicht geeignet,
die Rechtslage zu ändern, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die
Punkte geschaffen hat, die im vorliegenden Aufforderungsschreiben angesprochen
werden.
Zudem haben die deutschen Behörden nach dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021, der am 18. Mai veröffentlicht wurde, die
Dienststellen der Kommission darüber unterrichtet, dass ihrer Auffassung nach der
Rechtsstreit zum PSPP vor dem Bundesverfassungsgericht vollständig erledigt ist, ohne
dass er tatsächliche Konsequenzen ausgelöst hätte. Nach Auffassung der deutschen
Behörden ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ein wichtiges und positives
Signal für die Zukunft und für zukünftige Verfahren. Die Kommission ist dagegen der
Auffassung, dass auch diese Entwicklung die Rechtslage nicht ändert, die das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Punkte geschaffen hat, die im vorliegenden
Aufforderungsschreiben angesprochen werden. Dem Urteil des Gerichtshofs und den
Erwägungen, auf denen es beruht, werden die Rechtswirkungen weiterhin vorenthalten,
die die Verträge der Union vorsehen. Gleiches gilt für den ursprünglichen PSPP-
Beschluss. Die weiteren Schritte, die die deutschen Behörden nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts angesichts der geldpolitischen Beschlüsse der europäischen
Zentralbank vom 3. April und vom 4. April 2021 unternommen haben, haben zwar dazu
geführt, dass die Umsetzung des PSPP-Beschlusses in der Praxis nicht abgebrochen
wurde. Die Vertragsverletzung, die im vorliegenden Aufforderungsschreiben dargelegt
wird, bleibt davon indes unberührt.
Das vorliegende Aufforderungsschreiben betrifft die allgemeinen Grundsätze der
Autonomie, des Anwendungsvorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen
Anwendung des Unionsrechts, des Artikels 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren)
und des Artikels 4 Abs. 3 EUV (allgemeiner Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit).
Ohne diese Strukturprinzipien des Unionsrechts zu missachten, wäre es dem
Bundesverfassungsgericht nicht möglich gewesen, den PSPP-Beschluss als Ultra-vires-
Akt einzustufen.
4 Siehe die Urteile in
Ferreira da Silva, C-160/14, EU:C:2015:565, Randnrn. 36 bis 45; in
Kommission/Spanien, C-154/08, EU:C:2009:695, Randnrn. 124 bis 127; und in
Kommission/Italien,
C-129/00, EU:C.2003:656, Randnrn. 30 bis 35.
5 Siehe die Nachweise in Fußnote 2.
3
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Erster Vorwurf: Allgemeine Grundsätze der Autonomie, des Anwendungsvorrangs,
der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Unionsrecht eine autonome
Rechtsordnung sowohl gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten als auch gegenüber
dem Völkerrecht. Diese Autonomie beruht auf den wesentlichen Merkmalen der Union
und ihres Rechts, die ihre Verfassungsstruktur sowie das Wesen dieses Rechts selbst
betreffen. Das Unionsrecht ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass es einer autonomen
Quelle, den Verträgen, entspringt und Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat,
sowie durch die unmittelbare Wirkung einer ganzen Reihe von Bestimmungen, die für
ihre Staatsangehörigen und für sie selbst gelten. Solche Merkmale haben zu einem
strukturierten Netz von miteinander verflochtenen Grundätzen, Regeln und
Rechtsbeziehungen geführt, das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig
sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet.
6
Das Unionsrecht beruht somit auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat
mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt,
dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich gemäß Art. 2 EUV die Union gründet. Diese
Prämisse impliziert und rechtfertigt das gegenseitige Vertrauen zwischen den
Mitgliedstaaten, dass diese Werte selbst und dass das Unionsrecht, das sie umsetzt,
beachtet werden. In eben diesem Zusammenhang obliegt es den Mitgliedstaaten nach
dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen
Zusammenarbeit, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet insbesondere für die Anwendung
und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen und zu diesem Zweck alle geeigneten
Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu
ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben.
7
Nach ständiger Rechtsprechung können aufgrund des Anwendungsvorrangs des
Unionsrechts, welcher ein wesentliches Merkmal der Rechtsordnung der Union darstellt
8,
„
dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden
Recht wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen
Rechtsvorschriften vorgehen […], wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht
aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt
werden soll“.
9 Daraus folgt, dass Normen des mitgliedstaatlichen Rechts, selbst solche
von Verfassungsrang, niemals die Wirksamkeit des Unionsrechts im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedsstaates beeinträchtigen dürfen.
6 Urteil in
Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Randnr. 33; vergleiche in diesem Sinne auch Gutachten
2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Randnrn. 165 bis 167
und die darin zitierte Rechtsprechung.
7 Urteil in
Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Randnr. 34; Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur
EMRK) vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Randnrn. 168 und 173 und die darin zitierte
Rechtsprechung.
8 Gutachten 1/91 (EWR-Abkommen I), EU:C:1991:490, Randnr. 21; und Gutachten 1/09 (Schaffung
eines einheitlichen Patentgerichtssystems), EU:C:2011:123, Randnr. 65.
9 Urteile in
Costa/ENEL, 6/64, EU:C:1964:66, Seite 1145;
Internationale Handelsgesellschaft, 11/70,
EU:C:1970:114, Randnr. 3;
Dow Chemical Ibérica gg. Kommission, 97/87, 98/87 und 99/87,
EU:C:1989:380, Randnr. 38;
Winner Wetten, C-409/06, EU:C:2010:503, Randnr. 6; und
Melloni, C-
399/11, EU:C:2013:107, Randnr. 59.
4
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Um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der
Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, haben die Verträge ein Gerichtssystem
geschaffen, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der
Auslegung des Unionsrechts dient.
10
Schließlich sind nach ständiger Rechtsprechung mitgliedsstaatliche Gerichte nicht befugt,
Handlungen der Unionsorgane für ungültig zu erklären. Die dem Gerichtshof in Artikel
267 AEUV zuerkannten Befugnisse bezwecken nämlich im Wesentlichen, eine
einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte zu
gewährleisten. Diese Einheitlichkeit ist von besonderer Bedeutung, wenn es um die
Gültigkeit eines Unionsrechtsakts geht. Denn Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Gerichten der Mitgliedstaaten über die Gültigkeit von Unionsrechtsakten wären geeignet,
die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst zu gefährden und das grundlegende
Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen.
11 Daher ist allein der Gerichtshof
befugt, die Ungültigkeit eines Unionsrechtsakts festzustellen.
12
Nach Ansicht der Kommission ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit dem
allgemeinen Grundsatz der Autonomie des Unionsrechts unvereinbar. Das
Bundesverfassungsgericht stellt zunächst fest, das
Weiss-Urteil des Gerichtshofs sei ein
Ultra-vires-Akt
und entfalte in Deutschland keine Bindungswirkung. Im Anschluss daran
legt es eigenständig das Unionsrecht aus und prüft die Rechtmäßigkeit des PSPP-
Beschlusses auf Grundlage dieser eigenen Auslegung, um ihn ebenfalls als Ultra-vires-
Akt
einzustufen.
13 In Hinblick auf das
Weiss-Urteil des Gerichtshofs und den PSPP-
Beschluss missachtet das Bundesverfassungsgericht damit den allgemeinen Grundsatz
der Autonomie des Unionsrechts, indem es den PSPP Beschluss einer externen
gerichtlichen Überprüfung unterzieht. Damit stellt das Bundesverfassungsgericht das
gegenseitige Vertrauen der Mitgliedsstaaten darin, dass das Unionsrecht durch alle
Mitgliedstaat befolgt und geachtet wird, in Frage.
Gleichermaßen scheint das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundsatz des
Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unvereinbar zu sein und die Wirksamkeit des
Unionsrechts in Deutschland zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet
sogar ausdrücklich, dass der PSPP-Beschluss „
am Anwendungsvorrang des Unionsrechts
nicht [teilhat]“ und
„in Deutschland unanwendbar [ist und] für deutsche
Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte keine Wirkung [entfaltet]“. In diesem
Zusammenhang wendet das Bundesverfassungsgericht auch Vorschriften der nationalen
Rechtsordnung auf eine Weise an, welche die Wirksamkeit des Unionsrechts in
Deutschland in Frage stellen. Auf diese Weise verwirft das Bundesverfassungsgericht die
verbindliche und endgültige Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof, die
10 Urteil in
Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Randnr. 35; Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur
EMRK) vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Randnr. 174.
11 Urteile in
Foto-Frost, 324/85, EU:C:1987:452, Randnrn. 15 und 20;
IATA, C-344/04, EU:C:2006:10,
Randnr. 27; und
OTIS, C-199/11, EU:C:2012:684, Randnrn. 53 und 54.
12 Urteiles in
Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, C-143/88 und C-92/89,
EU:C:1991:65,
Randnr. 17; und in
Greenpeace France und andere, C-6/99, EU:C:2000:148, Randnr.
54.
13 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Randziffern 168 bis 179.
5
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einen besonderen Ausdruck des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts darstellt, und für
die Kohärenz und Einheitlichkeit der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts
wesentlich ist.
Schließlich stellt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch die ausschließliche
Zuständigkeit des Gerichtshofs dafür, einen Rechtsakt der Union für ungültig zu erklären,
in Frage. Zwar erklärt das Bundesverfassungsgericht den PSPP-Beschluss nicht förmlich
für ungültig, sondern macht seine weitere Wirksamkeit in Deutschland davon abhängig,
dass innerhalb von drei Monaten „
der EZB-Rat in einem neuen Beschluss
nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele
nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen
Auswirkungen stehen“.
14 Jedoch scheint dieses Ergebnis nicht ausschließlich vorläufigen
Charakter zu haben. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass das
Bundesverfassungsgericht das
Weiss-Urteil abschließend zum Ultra-vires-Rechtsakt
erklärt hat, um zu seiner Entscheidung im Hinblick auf den PSPP-Beschluss gelangen zu
können. Dadurch hat das Bundesverfassungsgericht eine Rechtslage geschaffen, die
gemäß der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs gerade vermieden werden soll,
und hat eine Entscheidung getroffen, die dem PSPP-Beschluss zuwiderläuft.
Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesrepublik Deutschland
somit gegen die allgemeinen Grundsätze der Autonomie, des Anwendungsvorrangs, der
Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie gegen die
ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs, einen Rechtsakt der Union für ungültig
zu erklären, verstoßen.
Ein informeller Dialog zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof,
um Formen „zukünftiger justizieller Zusammenarbeit“ auszuloten, wie er im Schreiben
vom 23. Februar 2021 vorgeschlagen wurde, könnte diese Schlussfolgerung nicht ändern.
Die anhaltende Verletzung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts verursacht hat, würde durch einen solchen informellen
Dialog nicht behoben.
Zweiter Vorwurf: Die bindende Wirkung von gemäß Artikel 267 AEUV erlassenen
Urteilen des Gerichtshofs und die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gemäß
Artikel 4 Abs. 3 EUV
Gemäß Artikel 19 EUV ist es Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs, die
volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den Schutz der Rechte
zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen.
15
Insbesondere besteht das Schlüsselelement des so gestalteten Gerichtssystems in dem in
Artikel 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die
Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht gerade zwischen dem Gerichtshof und
den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts
14 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Randziffer 235.
15 Urteil in
Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Randnr. 36; Gutachten 1/09 (Schaffung eines
einheitlichen Patentgerichtssystems), EU:C:2011:123, Randnr. 68, und 2/13 (Beitritt der Union zur
EMRK) vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Randnr. 175, sowie Urteil in
Associação Sindical
dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Randnr. 33.
6
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gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung
und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge
geschaffenen Rechts ermöglicht.
16
Es folgt daraus für das Rechtssystem der Union, dass ein Urteil des Gerichtshofs in einem
Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung oder Gültigkeit eines Rechtsakts der
Unionsorgane endgültig über die Rechtsfrage oder die Rechtsfragen des Unionsrechts
befindet und das nationale Gericht bei der Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit
bindet.
17
Indem das Bundesverfassungsgericht feststellt, das
Weiss-Urteil des Gerichtshofs entfalte
„
in Deutschland insoweit keine Bindungswirkung“,
18 missachtet es ein endgültig
verbindliches Urteil des Gerichtshofes.
Die Kommission ist der Auffassung, dass jede Meinungsverschiedenheit zwischen dem
vorlegenden Gericht eines Mitgliedsstaates und dem Gerichtshof durch einen Dialog im
Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gelöst werden muss. Dieser Dialog kann,
wenn notwendig, ein Prozess eines sich wiederholenden Dialogs sein.
19 Im Einklang mit
ständiger Rechtsprechung schließt die Bindungswirkung eines im
Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteils nicht aus, dass das nationale Gericht,
an das dieses Urteil gerichtet ist, eine erneute Anrufung des Gerichtshofes vor der
Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält. Nach ständiger
Rechtsprechung ist eine solche neuerliche Vorlage gerechtfertigt, wenn das nationale
Gericht beim Verständnis oder der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es
dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte
unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu
beantworten.
20 Die Rechtspflicht, den gerichtlichen Dialog fortzuführen, ergibt sich aus
Artikel 267 AEUV, ausgelegt im Lichte des Artikel 4 Abs. 3 EUV. Ein informeller
Dialog zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof, um Formen
„zukünftiger justizieller Zusammenarbeit“ auszuloten, wie er im Schreiben vom
23. Februar 2021 vorgeschlagen wurde, könnte den Mechanismus des justiziellen
Dialogs, den die Verträge geschaffen haben, nicht ändern oder ersetzen.
16 Urteil in
Achmea, C-284/16, EU:C:2018:158, Randnr. 37; Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur
EMRK), EU:C:2014:2454, Randnr. 176 und die darin zitierte Rechtsprechung.
17 Urteile in
Benedetti, 52/76, EU:C:1977:16, Randnr. 26;
Fazenda Pública, C-446/98, EU:C:2000:691,
Randnr. 49 und
Gauweiler, C-62/14, EU:C:2015:400, Randnr. 16 sowie Beschluss in
Wünsche, 69/85,
EU:C:1986:104, Randnr. 13.
18 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Randziffer 163.
19 Siehe zum Beispiel Urteil in
M.A.S. und M.B. („Taricco II“), C-42/17, EU:C:2017:936.
20 Bezüglich der Möglichkeit wiederholter Vorlagebeschlüsse in derselben Sache siehe das Urteil in
Pretore di Salò, 14/86, EU:C:1987:275, Randnr. 12, und den Beschluss in
Wünsche, 69/85,
EU:C:1986:104, Randnr. 15, wo der Gerichtshof auch klarstellt: „
Mit einer solchen erneuten Vorlage
kann jedoch die Gültigkeit des früheren Urteils nicht in Zweifel gezogen werden. Anderenfalls würde
die in Artikel 177 EWG-Vertrag [Artikel 267 AEUV] vorgenommene Verteilung der Zuständigkeiten
zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof in Frage gestellt.“
7
Aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass das
Weiss-Urteil des
Gerichtshofs in Deutschland keine bindende Wirkung entfaltet, ist die Kommission der
Auffassung, dass die Bundesrepublik Deutschland Artikel 267 AEUV nicht beachtet hat,
denn Urteile des Gerichtshofs, die auf Grundlage dieser Vorschrift verkündet werden,
sind verbindlich und endgültig. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht das
Weiss-Urteil zu einem Ultra-vires-Akt erklärt hat, statt dem Gerichtshof die Frage erneut
zur Vorabentscheidung vorzulegen, um die Schwierigkeiten zu lösen, die sich mit der
Anwendung des
Weiss-Urteils des Gerichtshofs ergaben. Dadurch hat die Bundesrepublik
Deutschland ihre Pflichten nach Artikel 267 AEUV, ausgelegt im Lichte des Artikel 4
Abs. 3 EUV, missachtet.
Schlussfolgerung
Daher ist die Europäische Kommission der Auffassung, dass die Bundesrepublik
Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus den allgemeinen Grundsätzen der
Autonomie, des Anwendungsvorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen
Anwendung des Unionsrechts, gegen die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs,
einen Rechtsakt der Union für ungültig zu erklären, sowie gegen Artikel 267 AEUV,
ausgelegt im Licht der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit, wie sie in Artikel 4
Abs. 3 EUV vorgeschrieben ist, verstoßen hat.
Die Kommission fordert Ihre Regierung gemäß Artikel 258 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union auf, sich binnen zwei Monaten nach Eingang
dieses Schreibens hierzu zu äußern.
Die Kommission behält sich vor, nach Eingang der Äußerungen oder im Falle, dass
innerhalb der gesetzten Frist keine Äußerungen eingehen, gegebenenfalls eine mit
Gründen versehene Stellungnahme nach Artikel 258 AEUV abzugeben.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Für die Kommission
Ursula VON DER LEYEN
Präsidentin der Kommission
8