
Ref. Ares(2023)4265410 - 20/06/2023
Völker- und europarechtliche Grenzen
einer Cannabis-Legalisierung
in Deutschland
Rechtsgutachten für die
Bayerische Staatsregierung
Stand: 23. Februar 2023
Prof. Dr. Bernhard W. Wegener, M.A. (Brügge), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
I.
Inhaltsverzeichnis:
I.
Inhaltsverzeichnis: .................................................................................................... 2
II. Zusammenfassung .................................................................................................... 4
III.
Vorbemerkung ...................................................................................................... 6
IV.
Rechtliche Zweifel an der Cannabis-Legalisierung .............................................. 7
A. Pläne der Bundesregierung ................................................................................... 7
B. Europaweit weitgehendstes Legalisierungsvorhaben ........................................... 7
C. Rechtliche Unsicherheit der Bundesregierung ..................................................... 9
D. Völkerrechtliche Verpflichtungen zur Cannabisprohibition in der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts ................................................................................... 11
E.
Rechtliche Bedenken gegenüber der Cannabis-Legalisierung in der Literatur .. 12
V. Völkerrechtliche Grenzen einer Cannabis-Legalisierung ....................................... 14
A. Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe 1961 ............................................... 15
1.
Beschränkung und Kriminalisierung ............................................................ 15
2.
Cannabis als Droge im Sinne des Einheits-Übereinkommens ..................... 18
B. UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe ................................................... 20
C. UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen ............ 22
2
D. Rechtsauffassung der UN-Organe ...................................................................... 23
1.
Die UN-Organe ............................................................................................ 24
2.
Rechtsauffassung zur Cannabis-Legalisierung ............................................. 24
VI.
Europarechtliche Grenzen einer Cannabis-Legalisierung .................................. 26
A. Das Schengener Durchführungsübereinkommen ............................................... 26
B. Rahmenbeschluss zum Drogenhandel ................................................................ 27
VII.
Untaugliche rechtliche Ansätze zu einer umfassenden Cannabis-Legalisierung 30
A. (Änderungs)-Kündigung der völkerrechtlichen Abkommen .............................. 30
1.
Völkerrechtliche und diplomatische Risiken ................................................ 31
2.
Völkerrechtliche Kündigung und Europarecht ............................................. 31
B. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung? .............................................................. 33
1.
Textliche Anknüpfung .................................................................................. 33
2.
Potentielle Entkriminalisierung nur des persönlichen Verbrauchs .............. 34
3.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung nach dem Grundgesetz? .................. 37
a)
Der Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ........................ 37
b)
Verfassungsrechtliche Neubewertung? ..................................................... 38
4.
Verfassungsvorbehalt und Europarecht ........................................................ 40
______________________________________________________________________
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
C. Europarechtliche Rechtfertigung durch gesetzliche Erlaubnis? ......................... 44
D. Cannabis-Produktion und -Handel als Element der Drogenbekämpfung? ......... 47
VIII. Rechtsschutzmöglichkeiten der Bayerischen Landesregierung .......................... 50
A. Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ........................................................ 50
1.
Prüfungsmaßstab Europarecht? .................................................................... 50
2.
Prüfungsmaßstab Völkerrecht? .................................................................... 52
B. Klärung durch den Europäischen Gerichtshof .................................................... 52
3
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
II.
Zusammenfassung
1. Die von der Bundesregierung geplante Cannabis-Legalisierung widerspricht völ-
ker- und europarechtlichen Vorgaben.
2. Die geplante Cannabis-Legalisierung widerspricht den einschlägigen UN-Über-
einkommen zur Drogenbekämpfung, die ein Verbot auch von Cannabis vorschrei-
ben.
3. Ausgenommen von den umfassenden Kriminalisierungsverpflichtungen aus den
UN-Übereinkommen ist lediglich der Gebrauch von Cannabis zu wissenschaftli-
chen und medizinischen Zwecken in einem engen Sinne.
4. Alle anderen Umgangsformen, insbesondere der Anbau, der Handel, der Im- und
Export, der Verkauf und Kauf, der Besitz und der Konsum von Cannabis, sind
nach den klaren und unmissverständlichen Vorgaben der UN-Übereinkommen zu
verbieten.
5. Die UN-Drogenkontrollorgane bewerten eine umfassende Cannabis-Legalisie-
rung der von der Bundesregierung geplanten Art in ständiger Entscheidungspraxis
4
als vertragswidrigen Verstoß gegen die UN-Übereinkommen zur Drogenbekämp-
fung.
6. Der von einer Minderheit in der Literatur als Weg zur umfassenden Cannabis-
Legalisierung bezeichnete „Verfassungsvorbehalt“ erlaubt die geplante Cannabis-
Legalisierung nicht. Er bezieht sich allein auf die Möglichkeit einer Entkrimina-
lisierung des persönlichen Konsums und der zu seinem Zweck dienenden unmit-
telbaren Vorbereitungshandlungen. Die Schaffung eines umfassenden Systems
staatlich organisierter oder lizensierter Bereitstellung von Cannabis ist damit nicht
vereinbar. Auch eine Entkriminalisierung des persönlichen Konsums und Anbaus
von Cannabis setzte aus völkerrechtlicher Sicht eine veränderte Verfassungs-
rechtslage in Deutschland und Europa voraus.
7. Die von der Bundesregierung geplante umfassende Cannabis-Legalisierung ließe
sich völkerrechtskonform allein im Wege einer (Änderungs)-Kündigung der UN-
Übereinkommen zur Drogenbekämpfung umsetzen. Dieser rechtlich und rechts-
politisch anspruchsvolle Weg wird dadurch weiter erschwert, dass auch die Euro-
päische Union als solche Vertragspartei eines der zentralen UN-Übereinkommen
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
zur Drogenbekämpfung ist. Auch die Europäische Union als solche müsste des-
halb von Deutschland zu einer entsprechenden (Änderungs)-Kündigung bewegt
werden.
8. Alle anderen EU-Mitgliedstaaten haben vor diesem Hintergrund bislang – unge-
achtet teils gegenläufiger politischer Überzeugungen – gerade wegen ihrer Unver-
einbarkeit mit den völker- und europarechtlichen Vorgaben bewusst auf eine um-
fassende Legalisierung, insbesondere des Handels mit Cannabis, verzichtet.
9. Jenseits der – ihrerseits auch für die Union verbindlichen – völkerrechtlichen Ver-
botsvorgaben steht auch das Recht der Europäischen Union als solches der ge-
planten umfassenden Cannabis-Legalisierung entgegen. Unzulässig sind danach
insbesondere der geplante staatliche oder staatlich lizensierte Handel, Anbau und
Verkauf von Cannabis zu anderen als wissenschaftlichen oder medizinischen
Zwecken.
10. Lediglich die Frage einer Entkriminalisierung des privaten Konsums und des un-
mittelbar auf diesen persönlichen Konsum gerichteten privaten Anbaus wird vom
EU-Recht als solchem nicht erfasst.
11. Nach derzeitigem Stand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts er-
5
scheint ein Antrag auf Abstrakte Normenkontrolle gegen ein eventuelles Canna-
bis-Legalisierungsgesetz des Bundes trotz dessen Völker- und Europarechtswid-
rigkeit wenig aussichtsreich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts ist Prüfungsmaßstab insoweit allein die Vereinbarkeit der angegriffenen
Vorschriften mit dem Verfassungsrecht, nicht aber mit dem Völker- und/oder Eu-
roparecht. Eine diesbezügliche Veränderung der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts erscheint auch vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtspre-
chung („Recht auf Vergessen“-Entscheidungen) unwahrscheinlich.
12. Die Bayerische Landesregierung hätte aber die Gelegenheit, eine höchstrichterli-
che Klärung der Unvereinbarkeit einer bundesrechtlichen Cannabis-Legalisierung
mit dem Völker- und Europarecht vor dem EuGH herbeizuführen, in dem sie die
Zulassung des kommerziellen Verkaufs von Cannabis zu Zwecken des Freizeit-
konsums in Bayern unter Hinweis auf dessen völker- und europarechtliche Unzu-
lässigkeit verweigerte. Unionsrechtlich ist die Bayerische Landesregierung zu ei-
nem entsprechenden Vorgehen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
III. Vorbemerkung
Diese Studie beschränkt sich auf eine rechtliche Analyse der völker- und europarechtli-
chen Möglichkeiten und Grenzen der von der Bundesregierung geplanten Cannabis-Le-
galisierung.
Politische, medizinische, kriminologische und soziologische Aspekte des richtigen Um-
gangs mit Cannabis bleiben damit außer Betrachtung, soweit sie nicht ihrerseits unmit-
telbare Rückwirkungen auf die rechtliche Analyse haben können.
Soweit die Studie rechtliche Möglichkeiten und Grenzen der Cannabis-Legalisierung auf-
zeigt, verbindet sich damit deshalb keine inhaltliche Aussage zu den grundsätzlichen Fra-
gen nach der „richtigen“ Drogenpolitik, genauer nach dem gesellschaftlich und regulato-
risch besten Umgang mit Cannabis. Der Studie kann deshalb jenseits der Fragen nach der
derzeitigen völker- und europarechtlichen Legalität kein Plädoyer weder für einen betont
prohibitiven, noch für einen die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfenden permissiven
staatlichen und unionalen Umgang mit Cannabis entnommen werden.
6
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
IV. Rechtliche Zweifel an der Cannabis-Legalisierung
Die Bundesregierung beabsichtigt eine weitgehende Cannabis-Legalisierung. Sie will da-
mit einer entsprechenden Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition nach-
kommen.1
A.
Pläne der Bundesregierung
Die einzelnen Elemente der geplanten Legalisierung hat die Bundesregierung in einem
entsprechenden Eckpunktepapier skizziert.2 Danach sollen Cannabis und Tetrahydrocan-
nabinol (THC) künftig nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Die Produk-
tion, die Lieferung und der Vertrieb von Cannabis sollen innerhalb eines lizenzierten und
staatlich kontrollierten Rahmens zugelassen werden. Der Erwerb und der Besitz bis zu
einer Höchstmenge von 20 bis 30 Gramm „Genusscannabis“ sollen zum Eigenkonsum
im privaten und öffentlichen Raum straffrei werden. Privater Eigenanbau soll in begrenz-
tem Umfang erlaubt werden.
B.
Europaweit weitgehendstes Legalisierungsvorhaben
Die Bundesregierung hat sich damit bewusst für eine auch im internationalen Vergleich
besonders weitgehende Cannabis-Legalisierung entschieden. Unter den Mitgliedstaaten
7
der Europäischen Union ist das von ihr angestrebte Legalisierungsvorhaben das mit deut-
lichem Abstand umfangreichste und weitgehendste. Die in manchen anderen Mitglied-
staaten der Union, etwa in den Niederlanden, in Luxemburg, Malta und Portugal3, bis
heute zu beobachtenden Veränderungen im rechtlichen Umgang mit dem Cannabiskon-
sum bleiben hinter dem von der Bundesregierung entwickelten Legalisierungsprogramm
sehr deutlich zurück. Das erscheint auch deshalb bemerkenswert, weil, soweit erkennbar,
1 „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP, S. 68: „Wir
führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizensierten Geschäften
ein.“
2 Eckpunktepapier der Bundesregierung, 2022, S. 3,
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/filead-
min/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunktepapier_Ab-
gabe_Cannabis.pdf. 3 Auch Portugal ist Vertragspartei der UN-Übereinkommen zur Drogenbekämpfung, verfolgt aber schon
seit Ende der 1990er-Jahre einen dezidiert gesundheitspolitischen Ansatz. Portugal hat im Zuge dessen den
Eigenkonsum aller Drogen entkriminalisiert, aber nicht legalisiert. Näher zur portugiesischen Drogenpoli-
tik:
Rego/Oliveira/Lameira/Cruz, 20 years of Portuguese drug policy – developments, challenges and the
quest
for
human
rights,
2021,
S. 6 ff.,
https://substanceabusepolicy.biomedcentral.com/arti-
cles/10.1186/s13011-021-00394-7. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
alle anderen EU-Mitgliedstaaten in der Vergangenheit gerade unter Hinweis auf das ent-
gegenstehende internationale und europäische Recht weitergehende Legalisierungs-
schritte für rechtlich unzulässig angesehen haben.4
Eben wegen dieser rechtlichen Grenzen haben etwa die Niederlande bislang auf eine
förmliche Cannabis-Legalisierung verzichtet.5 Die Abgabe und der Konsum kleiner Men-
gen Cannabis für den Privatgebrauch werden zwar polizeilich nicht verfolgt.6 Es handelt
sich insoweit aber lediglich um eine staatliche Opportunitätsentscheidung. Auch die libe-
ral-grün-sozialdemokratische luxemburgische Regierungskoalition hat wegen rechtlicher
Bedenken auf ihre ursprünglich umfassenden Legalisierungspläne verzichtet und einen
deutlich restriktiveren Gesetzentwurf7 vorgelegt, der nurmehr eine Entkriminalisierung
des privaten Konsums und eines beschränkten privaten Anbaus vorsieht. Ein ähnliches
Konzept verfolgt auch Malta.8 Auch in Italien haben sich Tendenzen zu einer umfassen-
den Legalisierung von Cannabis gerade wegen des entgegenstehenden internationalen
und europäischen Rechts bislang nicht durchsetzen können. So hat zwar einerseits der
italienische Kassationsgerichtshof Ende 2019 entschieden, dass der Eigenanbau kleiner
Mengen Cannabis für den persönlichen Konsum straffrei sei.9 Zugleich hat aber 2022 das
italienische Verfassungsgericht Forderungen nach einem Referendum zur Legalisierung
8
4 Auch Kanada hat hinsichtlich der eigenen Cannabis-Legalisierung, die den Plänen der Bundesregierung
inhaltlich weitgehend entspricht, offen eingeräumt, dass sie mit den rechtlichen Bestimmungen des UN-
Drogenbekämpfungsrechts nicht zu vereinbaren ist. Vgl. die entsprechende Stellungnahme Kanadas
Außenministerin
Chrystia Freeland, The Standing Committee on Foreign Affairs and International Trade
(AEFA),
Evidence,
Ottawa,
May
1,
2018,
https://sencanada.ca/en/Content/Sen/Commit-
tee/421/AEFA/54008-e: “our government recognizes that this proposed approach of legalizing, restricting
and strictly restricting cannabis will result in Canada contravening certain obligations related to cannabis
under the three UN drug conventions: the Single Convention on Narcotic Drugs, 1961; the 1971 Convention
on Psychotropic Substances and the 1988 United Nations Convention Against Illicit Traffic in Narcotic
Drugs and Psychotropic Substances”. Zur kanadischen Entwicklung auch:
Habibi/Hoffman, Legalizing
Cannabis Violates the UN Drug Control Treaties, but Progressive Countries Like Canada Have Options,
Ottawa Law Review (49) 2018, 427 ff.
5 Zur Strafbarkeit, vgl. Wet van 12 mei 1928, tot vaststelling van bepalingen betreffende het opium en
andere verdoovende middelen (Opiumwet), in niederländischer Sprache abrufbar unter https://wetten.over-
heid.nl/BWBR0001941/2022-07-01. Die verschiedenen Substanzen werden in zwei Listen aufgeführt.
Liste I enthält die als gefährlicher eingestuften harten Drogen wie Kokain, während Liste II die als weniger
gefährlich angesehenen Substanzen (weiche Drogen) wie Cannabis aufführt.
6 Vgl. hierzu Informationen der niederländischen Regierung zur Drogenpolitik, in englischer Sprache ab-
rufbar unter
https://www.government.nl/topics/drugs/toleration-policy-regarding-soft-drugs-and-coffee-
shops. 7 Gesetzentwurf Nr. 8033,
https://gouvernement.lu/dam-assets/documents/actualites/2022/06-juin/14-tan-
son-lutte-toxicomanie/apl-cannabis-version-finale-062022.pdf. 8 Vgl. Gesetz v. 18.12.2021: Act to establish the Authority on the Responsible Use of Cannabis and to
amend various laws relating to certain cannabis activities (Authority on the Responsible Use of Cannabis
Act, 2021),
https://parlament.mt/media/113703/bill-241-authority-on-the-responsible-use-of-cannabis-
bill.pdf. 9 Sezioni Unite, sentenza v. 19.12.2019,
https://www.nytimes.com/2019/12/27/world/europe/italy-ma-
rijuana-growing-cannabis.html. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
des Drogenanbaus in Italien unter Hinweis auf die entgegenstehenden völkerrechtlichen
Verpflichtungen Italiens als unzulässig zurückgewiesen.10
C.
Rechtliche Unsicherheit der Bundesregierung
Schon der 2015 in den Bundestag eingebrachte und seinerzeit gescheiterte Entwurf der
Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen für ein Cannabiskontrollgesetz, der dem
aktuellen Legalisierungsvorhaben der Bundesregierung in vielerlei Hinsicht als Blau-
pause dient,11 ging in seiner Begründung von einer Unvereinbarkeit der angestrebten Can-
nabis-Legalisierung jedenfalls mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands
aus.12 Er schlug deshalb vor, dass die Bundesrepublik die entsprechenden völkerrechtli-
chen Verbotsabkommen kündigen und anschließend mit einem auf Cannabis bezogenen
Vorbehalt wieder beitreten sollte. Auch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit europarechtli-
chen Bestimmungen verwies die Entwurfsbegründung auf gewisse Zweifel, die allerdings
im Ergebnis für unbegründet oder überwindbar angesehen wurden.13
Ob und ggfs. inwieweit die von ihr skizzierten Legalisierungsabsichten mit völkerrecht-
lichen und europarechtlichen Vorgaben vereinbar sind, ist nach eigener Aussage auch
derzeit der Bundesregierung noch unklar.14 Sie hat deshalb schon ihr Eckpunktepapier
9
10 Corte Costituzionale, Sentenza 51/2022 v. 16.2.2022
, https://curia.europa.eu/jcms/jcms/p1_3763461/en/.
Vgl. dazu auch
https://www.spiegel.de/ausland/cannabis-in-italien-referendum-ueber-legalisierung-des-
cannabisanbaus-abgelehnt-a-760dc8a2-5dc7-4968-85bd-97916d17f04d. 11 In dieser Einschätzung ebenso:
Lichtenthäler/Oğlakcıoğlu/Sobota, „Wenn die Ampel auf Grün schal-
tet...“: Neuralgische Punkte einer Cannabisfreigabe, NK 2022, 228 ff. mit weiteren kritischen Anm. zum
Gesetzentwurf.
12 Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, BT-Drs. 18/4204 v. 4.3.2015, S. 44: „Es bestehen jedoch kaum
Zweifel, dass ein System wie das des Cannabiskontrollgesetzes, das die Abgabe von Cannabis in zugelas-
senen Verkaufsstellen zum Konsum als Genussmittel Erwachsener ermöglicht, zum jetzigen Zeitpunkt
nicht mit dem internationalen Verbotsregime vereinbar ist.“ Der Gesetzentwurf wurde 2018 in unveränder-
ter Form und mit gleicher Begründung erneut eingebracht, vgl. BT-Drs. 19/819 v. 20.2.2018. Vgl. im Üb-
rigen auch die Anträge von FDP („Cannabis – Modellprojekte stärken“, BT-Drs. 19/515) und der „Linken“
(„Gesundheitsschutz statt Strafverfolgung“, BT-Drs. 19/832).
13 Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, BT-Drs. 18/4204 v. 4.3.2015, S. 45 f.: „voraussichtlich nicht
im Wege stehen“.
14 Vgl. auch Antwort der Bundesregierung v. 15.8.2022 auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU,
BT-Drs. 20/3121: „Die mit dem Vorhaben verbundenen völker- und europarechtlichen Fragestellungen
sind ein wichtiger Bestandteil der Beratungen.“
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
der EU-Kommission „zur Prüfung mit dem geltenden Völker- und Europarecht“ vorge-
legt.15 Für einen späteren Gesetzentwurf hat sie eine Notifizierung bei der EU-Kommis-
sion angekündigt.16
Anders als noch der Grünen-Entwurf für ein Cannabiskontrollgesetz, geht die Bundesre-
gierung aber offenbar davon aus, die völkerrechtlichen Hürden auch ohne eine Ände-
rungskündigung der entsprechenden UN-Übereinkommen zur Drogenbekämpfung um-
gehen zu können. Im Eckpunktepapier heißt es insoweit, die Bundesregierung werde bei
der Umsetzung des Koalitionsvorhabens dessen völker- und europarechtlichen Rahmen
„berücksichtigen“ und „dazu u.a. bezüglich der bestehenden völkerrechtlichen Abkom-
men eine Interpretationserklärung“ abgeben: „Vor diesem Hintergrund präferiert die
Bundesregierung die Option, eine Interpretationserklärung gegenüber den übrigen Ver-
tragsparteien der internationalen Übereinkommen und den internationalen Drogenkon-
trollgremien abzugeben, nach welcher sie diese Umsetzung des Koalitionsvertrages – un-
ter bestimmten engen Voraussetzungen staatlicher Reglementierung und Verbesserung
der Standards in den Bereichen Gesundheits- und Jugendschutz sowie Bekämpfung des
illegalen Drogenhandels – als mit dem Zweck und den rechtlichen Vorgaben der Über-
einkommen vereinbar erklärt.“17
10
Inwieweit diese einseitige „Interpretationserklärung“ die völkervertraglichen Verpflich-
tungen Deutschlands zur Drogenbekämpfung tatsächlich zu relativieren vermag, scheint
aber auch der Bundesregierung zweifelhaft zu sein. Betont vage spricht sie insoweit da-
von, der völker- und europarechtliche Rahmen biete „begrenzte Optionen, das Koaliti-
onsvorhaben umzusetzen“. „Alle Wege zur Umsetzung des Koalitionsvertrages“ seien
„mit unterschiedlichen völker- und europarechtlichen Risiken verbunden, die die Bun-
desregierung geprüft und bewertet“ habe.18
15 Bundesgesundheitsminister
Karl Lauterbach, Stellungnahme v. 26.10.2022
, https://www.bundesgesund-
heitsministerium.de/ministerium/meldungen/kontrollierte-abgabe-von-cannabis-eckpunktepapier-der-bun-
desregierung-liegt-vor.html. 16 Bundesministerium für Gesundheit, Stellungnahme v. 26.10.2022,
https://www.bundesgesundheitsmi-
nisterium.de/ministerium/meldungen/kontrollierte-abgabe-von-cannabis-eckpunktepapier-der-bundesre-
gierung-liegt-vor.html. 17 Eckpunktepapier der Bundesregierung, 2022, S. 3,
https://www.bundesgesundheitsministe-
rium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunk-
tepapier_Abgabe_Cannabis.pdf. Entschieden kritisch zur Untauglichkeit dieses Ansatzes
Jelsma, German
cannabis regulation on thin ice – The government’s risky approach to international legal obstacles puts the
entire project in jeopardy, 2022,
https://www.tni.org/en/article/german-cannabis-regulation-on-thin-ice. 18 Eckpunktepapier der Bundesregierung, 2022, S. 3 f.,
https://www.bundesgesundheitsministe-
rium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunk-
tepapier_Abgabe_Cannabis.pdf. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
D.
Völkerrechtliche Verpflichtungen zur Cannabisprohibition in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Auch das Bundesverfassungsgericht ging 1994 (wie auch die seinerzeitige Bundesregie-
rung19) in seiner Entscheidung zur grundsätzlichen Verfassungskonformität des straf-
rechtlich sanktionierten Cannabis-Verbots davon aus, dass dieses Verbot einer völkerver-
tragsrechtlich übernommenen Verpflichtung der Bundesrepublik entspreche. Deutsch-
land habe sich durch das Zustimmungsgesetz zum Suchtstoffübereinkommen von 1988
(IT 1988) und dessen nachfolgende Ratifikation die Gefahreneinschätzung der Vereinten
Nationen auch hinsichtlich des Umgangs mit Cannabis zu eigen gemacht „und ihrer dabei
übernommenen Verpflichtung zur strafbewehrten Bekämpfung des Umgangs mit Betäu-
bungsmitteln zugrunde gelegt.“ Im Lichte dieser Abkommen stelle „sich das Betäubungs-
mittelgesetz zugleich als der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur internationalen
Kontrolle der Suchtstoffe und psychotropen Stoffe, zur Kontrolle des Umgangs mit die-
sen Stoffen sowie zur Bekämpfung des illegalen Drogenmarktes und der an ihm beteilig-
ten kriminellen Organisationen dar, die ein gemeinsames Anliegen der in den Vereinten
Nationen zusammengeschlossenen Staatengemeinschaft“ seien „und nach deren überein-
stimmenden Überzeugung nur im Wege einer Zusammenarbeit der Staaten mit Aussicht
11
auf Erfolg ins Werk gesetzt werden“ könnten.20
19 Das Bundesverfassungsgericht zitierte die von dem seinerzeitigen Bundesgesundheitsminister namens
der Bundesregierung im Cannabis-Verfahren abgegebene Stellungnahme wie folgt: „Die von der Bundes-
republik Deutschland ratifizierten Übereinkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe und psycho-
trope Stoffe sowie das sich im Ratifizierungsverfahren befindliche Wiener Suchtstoffabkommen von 1988
begründeten die Verpflichtung der Vertragsstaaten, den unerlaubten Besitz und Gebrauch von und den
Handel mit Drogen zu sanktionieren. Hiervon würden auch die Cannabisprodukte erfaßt. Auch das Schen-
gener Zusatzübereinkommen verpflichte die Mitgliedstaaten zu strafrechtlichen Sanktionen gegen uner-
laubten Rauschgifthandel, -besitz und -gebrauch, insbesondere auch bei Cannabisprodukten. Eine Legali-
sierung von weichen Drogen widerspräche daher internationalem Recht.“, BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994,
2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 91.
20 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 127.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
E.
Rechtliche Bedenken gegenüber der Cannabis-Legalisierung in der
Literatur
Zweifel an der Vereinbarkeit einer weitreichenden Cannabis-Legalisierung mit dem Völ-
ker- und Europarecht sind schließlich auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur weit
verbreitet.21 Dies gilt selbst für solche Autoren, die dem Gedanken einer Entkriminalisie-
rung des Cannabiskonsums oder weitergehenden Legalisierungsschritten aufgeschlossen
gegenüberstehen.22 Hingewiesen werden kann insoweit auch auf Erfahrungen der luxem-
burgischen Regierungskoalition, die wie die deutsche Ampelkoalition mit dem Verspre-
chen einer weitgehenden Legalisierung des Handels mit Cannabis angetreten war, diese
Pläne allerdings inzwischen unter Hinweis auf entgegenstehendes europäisches Recht
drastisch zurückgeschnitten hat.23 Auch in den Niederlanden hat eine von der Regierung
in Auftrag gegebene Studie schon früh die Unvereinbarkeit einer weitgehenden Canna-
bis-Legalisierung mit internationalem und europäischem Recht aufgezeigt.24
21
Homberg/Goetz, Kurzgutachten betreffend rechtliche Hürden bei der Versorgung des deutschen Marktes
mit Cannabis zu Genusszwecken, Dentons Rechtsanwälte, 13.9.2022;
Homberg, Geplante Cannabis-Lega-
lisierung – Zwischen Wunschdenken und Rechtsrealität, LTO, 26.9.2022,
https://www.lto.de/recht/hinter-
12
gruende/h/cannabis-legalisierung-voelkerrecht-un-uebereinkommen-europarecht-schengen-vertragsverlet-
zung/; Scoville, Does the Legalization of Marijuana violate international law?, Marquette University Law
School Faculty Blog, 24.10.2014,
https://law.marquette.edu/facultyblog/2014/10/does-the-legalization-of-
marijuana-violate-international-law/. 22
Bewley-Taylor, Politics and finite Flexibilities: The UN Drug Control Conventions and their future De-
velopment, AJIL Unbound (114), 2020, 285 ff.;
Bewley-Taylor/Jelsma, The UN drug control conventions
– The Limits of Latitude, tni.org, 2012
, https://www.tni.org/files/download/dlr18.pdf; Jelsma, German can-
nabis regulation on thin ice – The government’s risky approach to international legal obstacles puts the
entire project in jeopardy, 2022, https://www.tni.org/en/article/german-cannabis-regulation-on-thin-ice;
Hofmann, Das Cannabis-Dilemma – Rechtliche Hürden der Cannabis-Legalisierung in Deutschland und
Europa, VerfBlog, 23.11.2021
, https://verfassungsblog.de/das-cannabis-dilemma/; ders., Welche Probleme
das Cannabiskontrollgesetz lösen muss - Deutschlands Cannabis-Dilemma Teil 2, VerfBlog, 15.7.2022,
https://verfassungsblog.de/cannabis-2/; ders., Cannabis Legalization in Germany – The Final Blow to Eu-
ropean Drug Prohibition?, European Law Blog, 11.1.2022,
https://europeanlawblog.eu/2022/01/11/canna-
bis-legalization-ingermany-the-final-blow-to-european-drug-prohibition/; ders., Deutschlands Cannabis-
Dilemma, ZIS 2022, S. 191 ff.;
Scheerer, Cannabis als Genussmittel?, ZRP 1996, 187 ff.;
Walsh, Can Can-
nabis be regulated in accord with International Law?, Washington Office on Latin America (WOLA),
online analysis, 14.11.2018,
https://www.wola.org/analysis/cancannabis-regulated-accord-international-
law/. Für eine EU-weite Lösung:
Fijnaut, Legalisation of Cannabis in some American States, European
Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 22 (2014) 207 ff. Kritisch zur Legalität staatlichen
oder lizensierten Anbaus und Handels:
Fijnaut/De Ruyver, The Third Way – A Plea for a Balanced Canna-
bis Policy, 2015, 205: „Without any doubt the establishment of such a system is in conflict with the drug
treaties of the United Nations and with European law.”
23
https://www.nzz.ch/international/luxemburg-laesst-die-kiffer-in-ruhe-ld.1651962. 24
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for Rec-
reational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Pol-
icy,
2019,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125; diese englischsprachige Veröffentlichung geht zurück auf
die entsprechende niederländische Studie aus dem Jahr 2014. Zum gleichen Ergebnis kam auch schon eine
ältere niederländische Studie des Asser-Instituts: T.M.C. Asser Instituut, Experimenteren met het Gedogen
van de Teelt van Cannabis ten Behoeve van de Bevoorrading van Coffeeshops – Internationaal rechtelijke
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Vor allem in der deutschen Debatte finden sich ungeachtet dessen aber auch Stimmen,
die Wege einer völker- und europarechtskonformen Cannabis-Legalisierung aufzuzeigen
suchen bzw. einen entsprechenden Normenkonflikt grundsätzlich in Abrede stellen.25
13
en Europees rechtelijke aspecten, Den Haag: 2005.
Van Kempen/Federova haben allerdings zwischenzeit-
lich die Ergebnisse ihrer ursprünglichen ersten Studie in einer zweiten menschenrechtlich ausgerichteten
Studie zu relativieren versucht. Dabei bleiben aber wegen des stark politologischen Ansatzes der zweiten
Studie die genauen rechtlichen Voraussetzungen und die Reichweite dieser Relativierungen eher unbe-
stimmt; vgl.
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis II: Regulation of Cannabis Cultivation
and Trade for Recreational Use: Positive Human Rights Obligations versus UN Narcotic Drugs Conven-
tions,
2019,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
ii/A856A0CE847E8ADAAEA19F760191FDBE.
25
Ambos, Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, VerfBlog, 20.5.2022,
https://verfassungsblog.de/zur-volkerrechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisierung;
ders.,
Nochmals: Cannabis-Entkriminalisierung und Europarecht, VerfBlog, 25.7.2022,
https://verfassungs-
blog.de/nochmals-cannabis-entkriminalisierung-und-europarecht/; ders., Neun Seiten Substanzlosigkeit –
Die Stellungnahme des „Fachbereich Europa“ des Bundestags zu EU-Recht und Cannabis-Legalisierung,
VerfBlog, 13.9.2022,
https://verfassungsblog.de/neun-seiten-substanzlosigkeit/; Steinke, Die EU versucht,
die Deutschen für dumm zu verkaufen, SZ v. 23.12.2022
, https://www.sueddeutsche.de/meinung/cannabis-
eu-deutschland-legalisierung-kommentar-1.5721134?reduced=true;
Lichtenthäler/Oğlakcıoğlu/Sobota,
„Wenn die Ampel auf Grün schaltet...“: Neuralgische Punkte einer Cannabisfreigabe, NK 2022, 228
(232 ff.);
Lutzhöft/Hendel, Legalisierung impossible? EU- und völkerrechtskonforme Optionen für eine
Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland, 2022,
https://www.twobirds.com/de/in-
sights/2022/germany/legalisierung-impossible-eu-und-voelkerrechtskonforme-optionen-fuer-eine-legali-
sierung-von-cannabis; die im letztgenannten Beitrag für möglich erachteten Legalisierungsoptionen blei-
ben allerdings im Ergebnis hinter den Zielsetzungen der Bundesregierung zurück. Vgl. auch:
Riboulet-
Zemouli, High Compliance, a Lex Lata Legalization for the Non-Medical Cannabis Industry: How to Reg-
ulate Recreational Cannabis in Accordance with the Single Convention on Narcotic Drugs, 1961, ssrn.com,
17.3.2022,
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4057428. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
V.
Völkerrechtliche Grenzen einer Cannabis-Legalisierung
Grenzen der beabsichtigten Cannabis-Legalisierung können sich zunächst aus dem inter-
nationalen Vertragsrecht ergeben. Die internationale Zusammenarbeit und das entspre-
chende Geflecht völkerrechtlicher Verträge ist im Bereich der Drogenbekämpfung so in-
tensiv und engmaschig wie in kaum einem anderen Politikbereich. Dies erklärt sich vor
allem aus dem internationalen Charakter des Drogenhandels, auf den die internationale
Staatengemeinschaft mit einer ganzen Reihe von rechtlichen Instrumenten und mit der
Schaffung eigener Institutionen reagiert hat.
Zugleich bestehen zwischen verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen zum Teil erheb-
liche Unterschiede im tatsächlichen und rechtlichen Umgang auch mit den von diesem
völkervertraglichen Regime erfassten Drogen. Dies gilt insbesondere für den Konsum
von Cannabis, der in manchen Staaten entschieden verfolgt und teils drakonisch geahn-
det, in anderen Staaten aber weithin toleriert wird.
Das völkerrechtliche Regelwerk besteht im Wesentlichen aus drei wichtigen internatio-
nalen Konventionen. Es sind dies:
1. Das sog. Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe von 1961 (Single Convention
14
on Narcotic Drugs, im Folgenden „SC 1961“).26
2. Das Übereinkommen über psychotrope Stoffe von 1971 (Convention on Psycho-
tropic Substances, im Folgenden „PS 1971“).27
3. Das UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und
psychotropen Stoffen von 1988 (UN Convention against Illicit Traffic in Narcotic
Drugs and Psychotropic Substances, im Folgenden „IT 1988“).28
Die Bundesrepublik Deutschland ist – wie fast alle anderen Staaten der Erde – Vertrags-
partei aller drei internationalen Abkommen.29
26
BGBl.
II
1977,
S.
112,
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzei-
ger_BGBl&jumpTo=bgbl277s0111.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl277s0111.pdf
%27%5D__1658330820975. 27
BGBl.
II
1976,
S.
1478,
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzei-
ger_BGBl&jumpTo=bgbl276s1477.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl276s1477.pdf
%27%5D__1658329245159. 28
BGBl.
II
1993,
S.
1137,
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzei-
ger_BGBl&jumpTo=bgbl293s1136.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl293s1136.pdf
%27%5D__1658329170038. 29 Das Einheits-Übereinkommen hat 154 Mitgliedstaaten,
https://treaties.un.org/pages/ViewDe-
tails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=VI-15&chapter=6; das Übereinkommen über psychotrope Stoffe von
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
A.
Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe 1961
Das Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe von 1961 (SC 1961) führte eine Vielzahl
älterer Abkommen zur Drogenbekämpfung in einem einheitlichen Rechtstext zusammen.
Das Einheits-Übereinkommen verfolgt zwei grundlegende Ziele: es will zum einen die
Verfügbarkeit bestimmter Drogen zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken si-
chern. Dabei geht es insbesondere um die Versorgung mit und die Weiterentwicklung
von schmerzstillenden Medikamenten. Zum anderen ist das Einheits-Übereinkommen be-
strebt, den Drogengebrauch strikt auf diese medizinischen und wissenschaftlichen Zwe-
cke zu begrenzen und – wie es schon in der Präambel des SC 1961 heißt – die „Rausch-
giftsucht“ einzudämmen, die „für den einzelnen voller Übel und für die Menschheit sozial
und wirtschaftlich gefährlich ist“.30
1.
Beschränkung und Kriminalisierung
Mit Blick auf die von der Bundesregierung angestrebte Cannabis-Legalisierung ist zu-
nächst Art. 4 lit. c) SC 1961 von zentraler Bedeutung, der die Vertragsstaaten auf eine
Politik der strikten Beschränkung des Gebrauchs von Drogen auf medizinische und wis-
senschaftliche Zwecke verpflichtet. Dort heißt es in der amtlichen deutschen Überset-
15
zung:31
„Die Vertragsparteien treffen alle erforderlichen Gesetzgebungs- und Ver-
waltungsmaßnahmen, […]
c) um nach Maßgabe dieses Übereinkommens die Gewinnung, Herstel-
lung, Ausfuhr, Einfuhr, Verteilung, Verwendung und den Besitz von
Suchtstoffen sowie den Handel damit auf ausschließlich medizinische und
wissenschaftliche Zwecke zu beschränken.“
Diese Grundsatznorm begrenzt die den Vertragsstaaten aufgegebene Verbotspolitik, in-
dem sie medizinische und wissenschaftliche Verwendungen ausdrücklich ausnimmt und
1971
hat
184
Mitgliedstaaten,
https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TRE-
ATY&mtdsg_no=VI-16&chapter=6&clang=_en; das UN-Abkommen von 1988 zählt 191 Vertragspar-
teien
, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=IND&mtdsg_no=VI-19&chapter=6&clang=_en. 30 Vgl.
UN, Commentary on the Single Convention on Narcotic Drugs, 1961, 3.8.1962,
https://www.unodc.org/documents/commissions/CND/Int_Drug_Control_Conventions/Commentaries-
OfficialRecords/1961Convention/1961_COMMENTARY_en.pdf. 31 Im Folgenden werden die internationalen Abkommen in ihren amtlichen deutschen Übersetzungen wie-
dergegeben. Auf den verbindlichen englischen bzw. französischen Wortlaut wird zurückgegriffen, soweit
dies zum besseren Verständnis oder zur Klärung von Zweifelsfragen dient.
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
deren Regelung den Staaten damit jedenfalls insoweit freistellt, als deren rechtliche Re-
gelsetzungen das restriktive Verbotsregime der SC 1961 nicht konterkarieren. Die Ver-
botsausnahme für medizinische Zwecke ist in Deutschland Grundlage der mit dem am
10. März 2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und
anderer Vorschriften32 erweiterten Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabisarz-
neimitteln.
Zugleich beschränkt die Grundsatznorm die zulässigen Drogenverwendungen ausschließ-
lich auf eben diese medizinischen und wissenschaftlichen Zwecke. Staatlicherseits darf
der nicht-wissenschaftliche und nicht-medizinische Umgang mit Drogen demnach in kei-
ner Form erlaubt werden. Schon diese Vorgabe spricht gegen die Möglichkeit einer wei-
tergehenden Legalisierung des Umgangs mit Drogen.
Das Einheits-Übereinkommen enthält aber nicht lediglich Regelungen, die eine Drogen-
Legalisierung ausschließen. Es verlangt vielmehr weitergehend jedenfalls teilweise eine
ausdrückliche Kriminalisierung des Umgangs mit Drogen. Drogen dürfen danach nicht
nur nicht erlaubt werden. Die Vertragsstaaten werden weitergehend verpflichtet, den Um-
gang mit Drogen ausdrücklich mit Strafe zu bedrohen.
16
Die Grundsatznorm des Art. 4 c) SC 1961 wird dafür ihrerseits konkretisiert und ver-
schärft durch Art. 36 Abs. 1 SC 1961, der spezifische Vorgaben für die Kriminalisierung
des Umgangs mit Drogen enthält:
„a) jede Vertragspartei trifft vorbehaltlich ihrer Verfassungsordnung die
erforderlichen Maßnahmen, um jedes gegen dieses Übereinkommen ver-
stoßende Anbauen, Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Besit-
zen, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Kaufen, Verkaufen, Liefern – gleich
viel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Durch-
fuhrverkehr –, Befördern, Einführen und Ausführen von Suchtstoffen so-
wie jede nach Ansicht der betreffenden Vertragspartei gegen dieses Über-
einkommen verstoßende sonstige Handlung, wenn vorsätzlich begangen,
mit Strafe zu bedrohen sowie schwere Verstöße angemessen zu ahnden,
insbesondere mit Gefängnis oder sonstigen Arten des Freiheitsentzugs.“
32 BGBl. 2017, Teil I, S. 403 ff.
______________________________________________________________________
link to page 33
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Die Bestimmung des Art. 36 Abs. 1 SC 1961 ist in ihrer entschieden umfänglichen Auf-
listung aller denkbaren Formen des Drogenverkehrs ersichtlich bemüht, eine möglichst
lückenlose Kriminalisierungsverpflichtung der Vertragsstaaten zu normieren.
Allerdings steht diese Kriminalisierungsverpflichtung unter dem allgemeinen Vorbehalt
der „Verfassungsordnung“ der jeweiligen Vertragspartei. Es ist dieser Verfassungsvorbe-
halt, der von einer Mindermeinung in der Literatur als Einfallstor für eine auch ganz
grundsätzlich abweichende Drogenpolitik und damit auch als Legitimation für eine um-
fängliche Cannabis-Legalisierung, wie sie von der Bundesregierung geplant ist, verstan-
den wird. Auf diese – rechtlich nicht überzeugende – Argumentation wird noch näher
einzugehen sein.33
Außerdem fällt auf, dass im Unterschied zu Art. 4 c) SC 1961 in der Bestimmung des
Art. 36 Abs. 1 a) SC 1961 über die Strafbarkeit zwar auch das „Besitzen“, nicht aber die
bloße „Verwendung“ von Drogen aufgelistet ist. Die Kriminalisierung dieser Verwen-
dung, also des eigentlichen Drogenkonsums, ließe sich allenfalls als „sonstige Handlung,
wenn vorsätzlich begangen“, einordnen. Auch solche sonstigen Handlungen müssen aber
nur dann und insoweit mit Strafe bedroht werden, wenn diese Handlungen nach Ansicht
17
der jeweiligen Vertragspartei gegen das Einheits-Übereinkommen verstoßen. Auch wenn
ein „Verwenden“ ohne vorheriges „Besitzen“ nur in bestimmten Konstellationen prak-
tisch sein mag, wird den Vertragsstaaten hiermit hinsichtlich der Frage der Kriminalisie-
rung des eigentlichen Drogenkonsums ein eigener Entscheidungsspielraum eingeräumt.
Für alle dem Drogenkonsum vorgelagerten Handlungen gilt dies aber ausdrücklich nicht.
Eine gewisse weitere Rücknahme der Kriminalisierungspflichten enthält auch Art. 36
Abs. 1 b) SC 1961 wonach die Vertragsparteien, für Drogenabhängige anstelle einer Be-
strafung „Maßnahmen der Behandlung, Aufklärung, Nachbehandlung, Rehabilitation
und sozialen Wiedereingliederung“ vorsehen können.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Vertragsstaaten des Einheits-Überein-
kommens jedenfalls prima facie den nicht-wissenschaftlichen und nicht-medizinischen
Umgang mit Drogen nicht erlauben dürfen. Zudem müssen sie alle erdenklichen Formen
eines solchen Umgangs mit Drogen – mit Ausnahme des eigentlichen unmittelbaren Dro-
genkonsums in einem engen Sinne – unter Strafe stellen und also kriminalisieren.
33 Eingehend dazu u.
VII.B. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
2.
Cannabis als Droge im Sinne des Einheits-Übereinkommens
Konkretisiert werden diese Regelungen durch die gleichfalls im Einheits-Übereinkom-
men enthaltenen Definitionen des Begriffs der „Drogen“. Zu diesen Drogen zählt das
Einheits-Übereinkommen in einer Vielzahl von Detailregelungen und in den einschlägi-
gen definitorischen Anhängen ausdrücklich alle wirkstoffrelevanten Teile der Cannabis-
pflanze und der aus ihr gewonnenen psychotropen Bestandteile und Produkte.34
Dabei bezeichnet das SC 1961 in Art. 1 Abs. 1 b) als „Cannabis“ die „Blüten- oder
Fruchtstände der Cannabispflanze, denen das Harz nicht entzogen worden ist“. Cannabis
und Cannabis-Harz werden in Art. 1 Abs. 1 j) iVm Anhang I SC 1961 als „Suchtstoff“,
in der englischen Fassung als „Drug“, definiert. Cannabis unterfiel ursprünglich den An-
hängen I und IV SC 1961 und damit dem striktesten Verbotsregime des Einheitsüberein-
kommens. Das Einheits-Übereinkommen differenzierte dabei ausdrücklich und absicht-
lich nicht zwischen einer „weichen“ Droge Cannabis und anderen „härteren“ Drogen.35
Zusätzlich zu den allgemeinen Verbotsanforderungen galten deshalb auch für Cannabis
die besonderen Restriktionen des Art. 2 Abs. 5 iVm Anhang IV SC 1961. Grund für die
Einbeziehung von Cannabis in den Kreis dieser besonders streng reglementierten Drogen
war sein schon seinerzeit weit verbreiteter Gebrauch, der den Vertragsstaaten als beson-
18
ders gefährlich erschien.36
Hinzuweisen ist an dieser Stelle aber auf den im Einheits-Übereinkommen selbst enthal-
tenen Mechanismus zur Neubewertung von Drogen. Nach Art. 3 SC 1961 kann die Sucht-
stoff-Kommission (Commission on Narcotic Drugs – im folgenden CND) des UN-Wirt-
34 Hinsichtlich dieser Tatsache besteht Einigkeit in der Literatur:
van Kempen/Fedorova, International Law
and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for Recreational Use under the UN Narcotic Drugs
Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Policy, 2019,
https://www.cam-
bridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125,
S. 16 ff.;
Lutzhöft/Hendel, Legalisierung impossible? EU- und völkerrechtskonforme Optionen für eine Le-
galisierung von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland, 2022,
https://www.twobirds.com/de/in-
sights/2022/germany/legalisierung-impossible-eu-und-voelkerrechtskonforme-optionen-fuer-eine-legali-
sierung-von-cannabis.
35
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for Rec-
reational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Pol-
icy,
2019,
S. 17,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125.
36
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for Rec-
reational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Pol-
icy,
2019,
S. 17,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125.
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
schafts- und Sozialrates (UN-ECOSOC) im Anschluss an eine entsprechende Empfeh-
lung der Weltgesundheitsorganisation WHO mit Mehrheit diesem Rat eine Neueinstu-
fung oder Streichung einer bestimmten Droge empfehlen.
Im Rahmen dieses Neubewertungsprozesses sind Cannabis und Cannabisharz Ende 2020
auf Vorschlag der WHO mit Rücksicht auf ihr geringeres Gefahrenpotential aus dem An-
hang IV gestrichen worden. Zugleich entschied man sich wegen der weiterhin weiten
Verbreitung von Cannabis und der damit verbundenen Gesundheitsprobleme gegen eine
weitergehende Herabstufung.37 Für Cannabis als „Suchtstoff“/Droge gelten deshalb ge-
mäß Art. 2 Abs. 1 SC 1961 nurmehr alle allgemeinen Kontrollmaßnahmen, die das Ein-
heits-Übereinkommen den Vertragsstaaten zum Zwecke der Drogenbekämpfung vor-
schreibt.
So darf etwa – neben anderen für Deutschland nicht einschlägigen Mengenbestimmungen
und abgesehen von Bestandsverrechnungsgrößen – nach Art. 21 Abs. 1 a) SC 1961 die
„von einem Staat oder Hoheitsgebiet während eines Jahres hergestellte und eingeführte
Gesamtmenge“ Cannabis die Menge nicht überschreiten, „die im Rahmen der diesbezüg-
lichen Schätzung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke verbraucht wird“. In-
19
tention der Bestimmung ist es, den Anbau von Cannabis möglichst strikt und eng auf die
vom Einheits-Übereinkommen für zulässig erachteten medizinischen und wissenschaft-
lichen Zwecke zu begrenzen.
Art. 22 SC 1961 trifft Regelungen, nach denen in Staaten, in denen eine Begrenzung der
Verwendung angebauter Cannabispflanzen auf die vom Einheits-Übereinkommen er-
laubten medizinischen und wissenschaftlichen Zwecke nicht gewährleistet werden kann,
der Anbau insgesamt zu verbieten ist. In diesen Staaten müssen die illegal angebauten
Cannabispflanzen beschlagnahmt und vernichtet werden.
Keine Anwendung findet das Einheits-Übereinkommen nach Art. 28 Abs. 2 SC 1961 le-
diglich auf den „Anbau der Cannabispflanze zu ausschließlich gärtnerischen und gewerb-
lichen Zwecken“.
Nach Art. 30 SC 1961 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, „für die Lieferung oder Ab-
gabe von Suchtstoffen an Einzelpersonen ärztliche Verordnungen vorzuschreiben“. Die
37 Decision 63/17; vg
l. https://www.unodc.org/unodc/en/commissions/CND/Mandate_Functions/Mandate-
and-Functions_Scheduling.html; vgl. zur Motivation:
https://www.unodc.org/documents/commis-
sions/CND/CND_Sessions/CND_62Reconvened/ECN72020_CRP19_V2006823.pdf. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Vorschrift bringt erneut zum Ausdruck, dass Suchtstoffe, also auch Cannabis, nur zu me-
dizinischen Zwecken an Einzelpersonen abgegeben werden dürfen.
Nach Art. 33 SC 1961 gestatten die Vertragsparteien „keinen Besitz von Suchtstoffen
ohne gesetzliche Ermächtigung“.
Hinzuweisen ist schließlich auf die in Art. 49 SC 1961 enthaltene Möglichkeit eines Vor-
behalts gegenüber dem Cannabisverbot. Einen solchen – ohnehin nur zeitlich beschränkt
zulässigen – Vorbehalt hat Deutschland anlässlich der Vertragsunterzeichnung nicht er-
klärt.38 Die Vorschrift ist im Hinblick auf die von der Bundesregierung angestrebte Can-
nabis-Legalisierung auch deshalb von Bedeutung, weil sie nochmals ausdrücklich deut-
lich macht, dass nationale Rechtsordnungen Cannabis unter den Maßgaben des Einheits-
Übereinkommens nicht legalisieren dürfen. Im Gegenteil verlangt die Vorschrift selbst
von solchen Vertragsstaaten, die 1961 noch einen legalen Cannabis-Markt kannten, diese
traditionelle Legalität innerhalb eines höchstens 25-jährigen Übergangszeitraums auslau-
fen zu lassen. Ziel und Maßgabe des Einheits-Übereinkommens ist es somit ausdrücklich,
jede ehemals noch bestehende Cannabis-Legalität zu beenden.
B.
UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe
20
Ergänzend zum Einheitsabkommen von 1961 wurde 1971 das Wiener UN-Übereinkom-
men über psychotrope Stoffe (Convention on Psychotropic Substances, im Folgenden
„PS 1971“) verabschiedet.
Das PS 1971 enthält in Art. 7 eine zu Art. 4 SC 1961 weitgehend inhaltsgleiche Verbots-
norm, die die Vertragsstaaten verpflichtet, in Bezug auf die in Anhang I des Übereinkom-
mens aufgeführten Stoffe unter anderem „jede Verwendung [zu] verbieten, außer für wis-
senschaftliche und – in sehr beschränktem Umfang – für medizinische Zwecke durch
ordnungsgemäß ermächtigte Personen in medizinischen oder wissenschaftlichen Einrich-
tungen, die unmittelbar der Aufsicht der jeweiligen Regierung unterstehen oder von die-
ser ausdrücklich zugelassen sind“.
Zu den in Anhang I enthaltenen Stoffen zählt auch der in Cannabis enthaltene Wirkstoff
THC in seinen verschiedenen Formen.
38 Vgl.
Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz, 102022, Stoffe, Rn. 63. Ein entsprechender
Vorbehalt schob die Geltung des Verbotsregimes ohnehin nur für längstens 25 Jahre auf. Ein entsprechen-
der Vorbehalt wäre nach Art. 49 Abs. 2a SC 1961 zudem nur zulässig gewesen, soweit der Cannabiskon-
sum und -handel in Deutschland 1961 „herkömmlich“ und „erlaubt“ gewesen wäre.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Dennoch wird das PS 1971 von der herrschenden Ansicht in der völkerrechtlichen Lite-
ratur für die Frage der Cannabis-Legalisierung für irrelevant oder wenigstens für von un-
tergeordneter Bedeutung angesehen.
Eigentlicher Grund hierfür ist weniger der Wortlaut der Bestimmungen des PS 1971.
Zwar bezieht sich dieser Wortlaut vor allem auf die eigentlichen Wirkstoffe als solche
und nicht auf die Cannabis-Pflanze und die aus ihr gewonnenen Produkte.39 Da aber auch
das PS 1971 von „Zubereitung“ (Art. 1 f)), „Herstellung“ (Art. 1 i)) oder „Umwandlung“
(Art. 1 i)) spricht, läge an sich seine Erstreckung auch auf alle THC-haltigen Cannabis-
Produkte nahe.
Die Nichtanwendung des PS 1971 auf die Frage der Cannabis-Legalisierung dürfte des-
halb vor allem mit der besonderen Intention dieses Abkommens zu erklären sein. Das
PS 1971 soll nämlich gerade der Bekämpfung derjenigen Drogenwirkstoffe dienen, die
noch keine völkervertragliche Verbotsregelung erfahren haben. Den Vertragsparteien
ging es – auch wenn dies im Wortlaut des PS 1971 nur sehr unvollkommen zum Ausdruck
kommt – gerade nicht um ein erneutes, die Regelungen der SC 1961 wiederholendes und
paralleles Verbotsregime. Das PS 1971 sollte vielmehr der Bekämpfung weiterer psycho-
21
troper Stoffe dienen, die von dem bereits bestehenden SC 1961 nicht erfasst wurden. In
Ansätzen deutlich wird diese beschränkte Regelungsabsicht der Vertragsparteien vor al-
lem in Art. 2 Abs. 1 PS 1971 wonach nur „noch nicht unter internationaler Kontrolle ste-
hende[…] Stoff[e]“ Aufnahme in die Verbotsliste des Anhangs I PS 1971 finden sollen.40
Da Cannabis und die gängigen Cannabis-Produkte sämtlich bereits vom SC 1961 erfasst
wurden und werden, erübrigte sich ein erneutes Verbot. Die dazu wenigstens auf den
ersten Blick im Widerspruch stehende Aufnahme des Wirkstoffes THC in den Anhang I
PS 1971 kann vor diesem Hintergrund als Regelung verstanden werden, die lediglich
neue, vom SC 1961 noch nicht ausdrücklich erfasste und bis heute keine substantielle
39 Aus diesem Grund verneinen
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis I: Regulation of
Cannabis Cultivation for Recreational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal
Instruments in Anti-Drugs Policy, 2019, S. 11f.
, https://www.cambridge.org/core/books/international-law-
and-cannabis-i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125, die Relevanz des PS 1971 für die Frage der
Cannabis-Legalisierung.
40 Vor allem auf diese einschränkende Formulierung verweist auch der UN-Commentary on the Convention
on Psychotropic Substances, 21.2.1971, S. 39 Nr. 14 ff. Auch hier bleibt aber die genaue Bedeutung der
Einschränkung im Ergebnis unklar, wenn es (in Nr. 16) heißt: „the definitions in the two treaties of the
properties warranting international control are overlapping“.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Rolle spielende Verwendungen des Wirkstoffes als solche bereits vorsorglich einem wei-
teren völkervertraglichen Verbotsregime zu unterwerfen.
Für die Zwecke dieses Gutachtens wird deshalb mit der herrschenden völkerrechtlichen
Interpretation auf eine besondere Prüfung der Cannabis-Legalisierung am Maßstab des
PS 1971 verzichtet. Dabei sei allerdings darauf hingewiesen, dass auch das PS 1971 mit
seiner ausdrücklichen Aufnahme von THC in seinen Verbotsanhang I die seinerzeitige
Absicht der Vertragsparteien zu einer möglichst umfassenden Regulierung von Cannabis
erneut deutlich machte.
C.
UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstof-
fen
Die Vertragsverhandlungen über das UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Ver-
kehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen von 1988 (UN Convention against Illicit
Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances, im Folgenden „IT 1988“) waren
Schauplatz einer weltweiten Auseinandersetzung der Verfechter und Gegner einer Lega-
lisierung von Cannabis. Die Legalisierungsbefürworter „lost the battle“41: Art. 3 und 14
IT 1988 statuieren bis heute eine eher strikte Verbotspolitik, die sich ausdrücklich und in
22
Übernahme der Definitionen des Einheits-Übereinkommens von 1961 auch auf Cannabis
erstreckt.42
Die zentrale Verbotsnorm des IT 1988 ist dessen umfangreicher Art. 3, der die Vertrags-
parteien zur Schaffung eines umfassenden Straf- und Sanktionenregimes verpflichtet. Zu
pönalisieren sind danach alle erdenklichen Taten, die Teil des illegalen Verkehrs mit
Suchtmitteln sind. So sind nach Art. 3 Abs. 1a i) IT 1988 in enger Anlehnung an die ent-
sprechenden Bestimmungen der SC 1961 „das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zube-
reiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Be-
41
Fijnaut, Legalisation of Cannabis in some American States, European Journal of Crime, Criminal Law
and Criminal Justice, 22 (2014) 207 ff.
42
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for Rec-
reational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs Pol-
icy,
2019,
S. 51 f.,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125. Zu den einzelnen Bestimmungen des Abkommens auch:
UN, Commentary on the United Nations Convention against illicit traffic in narcotic drugs and psychotropic
substances, 1988, 20.12.1988,
https://www.unodc.org/documents/commissions/CND/Int_Drug_Con-
trol_Conventions/Commentaries-OfficialRecords/1988Convention/1988_COMMENTARY_en.pdf. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
dingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Aus-
führen eines Suchtstoffs oder psychotropen Stoffes entgegen dem Übereinkommen von
1961“ unter Strafe zu stellen.
Bemerkenswert ist, dass die Vertragsparteien nach Art. 3 Abs. 1a iii) IT 1988 das bloße
Besitzen oder Kaufen eines Suchtstoffes oder psychotropen Stoffes nur dann und insoweit
unter Strafe stellen müssen, als der Besitz oder Kauf „zum Zweck einer der unter Ziffer i
aufgeführten Tätigkeiten“ erfolgt. Die hier normierte ausdrückliche Kriminalisierungs-
verpflichtung gilt demnach nur für den auf Handelstätigkeiten gerichteten Besitz oder
Kauf von Drogen, nicht aber für den Besitz oder Kauf zum ausschließlichen Eigenge-
brauch.
Im scheinbaren Gegensatz dazu trifft nach Art. 3 Abs. 2 IT 1988 jede Vertragspartei „vor-
behaltlich ihrer Verfassungsgrundsätze und der Grundzüge ihrer Rechtsordnung die not-
wendigen Maßnahmen, um nach ihrem innerstaatlichen Recht den Besitz, den Kauf oder
den Anbau von Suchtstoffen oder psychotropen Stoffen für den persönlichen Verbrauch
entgegen dem Übereinkommen von 1961, dem Übereinkommen von 1961 in seiner ge-
änderten Fassung oder dem Übereinkommen von 1971, wenn vorsätzlich begangen, als
23
Straftat zu umschreiben.“ Eine Beschränkung auf Handelstätigkeiten ist in dieser Bestim-
mung nicht enthalten.
Diese scheinbar gegensätzlichen Maßgaben erklären sich vor dem Hintergrund der unter-
schiedlichen Relativierungen der in den jeweiligen Bestimmungen enthaltenen Krimina-
lisierungsverpflichtungen. Während sich die Vertragsparteien zur Begrenzung der Straf-
barkeit des Besitzes, Kaufs oder Anbaus von Drogen für den persönlichen Verbrauch auf
Schranken ihres Verfassungsrechts bzw. der Grundzüge ihrer Rechtsordnungen berufen
können, soll dies jenseits dieses persönlichen Verbrauchs gerade nicht möglich sein. Nur
der Besitz, Kauf oder Anbau zum Eigenkonsum muss daher von den Vertragsparteien
nicht unter allen verfassungsrechtlichen Umständen zwingend pönalisiert werden. Dage-
gen gilt für alle auf den kommerziellen Anbau und den Handel mit Drogen gerichteten
Tätigkeiten kein Verfassungsvorbehalt. Diese Tätigkeiten sind daher unter allen Umstän-
den zu kriminalisieren.
D.
Rechtsauffassung der UN-Organe
Bei der Beurteilung der völkervertraglichen Grenzen der Cannabis-Legalisierung muss
schließlich auch die völkerrechtliche Praxis, insbesondere die Entscheidungspraxis und
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
die in ihr zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung der von den Vereinten Nationen
selbst geschaffenen Organe zur Überwachung der Einhaltung des Rechts der internatio-
nalen Drogenbekämpfung Beachtung finden.
1.
Die UN-Organe
Zur besseren internationalen Durchsetzung des Einheits-Übereinkommens haben die
Vereinten Nationen zwei Kontrollorgane geschaffen.
Dazu zählt erstens die Suchtstoffkommission (Commission on Narcotic Drugs – CND),
deren Aufgabe im Wesentlichen darin besteht, im Zusammenwirken mit den Vertrags-
parteien und der Weltgesundheitsorganisation die Entwicklungen im Bereich des Dro-
genmissbrauchs und der Drogenentwicklung zu beobachten und auf die sich daraus erge-
benden Änderungen in den Listen der vom Einheits-Übereinkommen erfassten Stoffe
hinzuwirken.
Das zweite der Kontrollorgane ist das 1968 geschaffene Suchtstoffamt (International Nar-
cotics Control Board – INCB), das eine überwachende Funktion wahrnimmt. Das INCB
überwacht insbesondere die Drogenproduktion in den Vertragsstaaten und kontrolliert die
von diesen übermittelten Angaben. Stellt das INCB Fehlentwicklungen in einem Ver-
24
tragsstaat fest, so kann es diesem Konsultation, Inspektionen, Unterstützungs- und Ab-
hilfemaßnahmen vorschlagen. Das INCB kann außerdem die Organe der Vereinten Nati-
onen, die CND und die anderen Vertragsparteien auf die beobachteten Missstände auf-
merksam machen. Schließlich steht es dem INCB zu, regelmäßig Berichte über die von
ihm geleisteten Überwachungstätigkeiten zu veröffentlichen. Das INCB versteht sich
selbst als „independent and quasi-judicial monitoring body for the implementation of the
United Nations international drug control conventions”.43
2.
Rechtsauffassung zur Cannabis-Legalisierung
Das INCB hat sich in der Vergangenheit schon vielfach zu Fragen der Cannabis-Legali-
sierung in verschiedenen Vertragsstaaten geäußert. Es hat dabei eine nicht strikt auf wis-
senschaftliche oder medizinische Anwendungsfälle beschränkte Legalisierung durchweg
43 Vgl. die Website des INCB
: https://www.incb.org/. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
und unter allen Umständen als unvereinbar mit den Vorgaben des Einheits-Übereinkom-
mens und damit als völkerrechtswidrig bezeichnet.44
Das INCB hält auch den privaten Anbau von Cannabis selbst für medizinische Zwecke
für unvereinbar mit dem Einheits-Übereinkommen, weil das damit einhergehende Fehlen
einer staatlichen Überwachung die Gefahr des illegalen Gebrauchs fördere.45
Allerdings hat das INCB in seinen Jahresberichten auch den in den Rechtsordnungen ei-
ner Reihe von Vertragsstaaten zu beobachtenden Trend zur Legalisierung des privaten
Cannabiskonsums zur Kenntnis nehmen müssen. Dennoch hat das INCB auch in seinem
jüngsten Bericht durchgängig – und auch etwa gegenüber der Rechtsentwicklung in ver-
schiedenen Bundestaaten der USA – an seiner Rechtsauffassung festgehalten, dass eine
Cannabis-Legalisierung für den Freizeitgebrauch mit den rechtlichen Vorgaben des Ein-
heits-Übereinkommens unvereinbar ist.46 Das INCB hat in den Konsultationen mit den
entsprechenden Vertragsstaaten versucht, auf eine möglichst restriktive Legalisierungs-
politik und insbesondere auf eine fortgesetzte rechtliche und faktische Begrenzung des
Cannabis-Handels hinzuwirken.47
25
44 Vgl. etwa:
INCB, Uruguay is breaking the International Conventions on Drug Control with the Cannabis
Legislation approved by its Congress, incb.org, 11.12.2013,
https://incb.org/documents/Publica-
tions/PressRelease/PR2013/press_release_111213.pdf; INCB, INCB holds consultations with Uruguay on
cannabis
legalization
for
non-medical
purposes,
incb.org,
4.1.2021,
https://www.incb.org/incb/en/news/press-releases/2021/incb-holds-consultations-with-uruguay-on-canna-
bis-legalization-for-non-medical-purposes.html; INCB, Statement by the International Narcotics Control
Board on the entry into force of Bill C-45 legalising cannabis for non-medical purposes in Canada, incb.org,
17.10.2018,
https://www.incb.org/incb/en/news/press-releases/2018/statement-by-the-international-nar-
cotics-control-board-on-the-entry-into-force-of-bill-c-45-legalising-cannabis-for-non-medical-purposes-
in-canada.html. 45 Vgl. INCB-Jahresbericht 2021, Rn. 611,
https://www.incb.org/documents/Publications/AnnualRe-
ports/AR2021/Annual_Report/E_INCB_2021_1_eng.pdf, wo sich das INCB gegen eine entsprechende
Rechtsänderung in Peru ausspricht.
46 Vgl. INCB-Jahresbericht 2021, Rn. 224 f.,
https://www.incb.org/documents/Publications/AnnualRe-
ports/AR2021/Annual_Report/E_INCB_2021_1_eng.pdf. Das INCB hat dabei zugleich auf den zuneh-
menden Cannabiskonsum in den USA und auf die von der bundesstaatlichen Legalisierung ausgehende
Gefahr einer Bagatellisierung der damit einhergehenden Gefahren hingewiesen. Vgl. auch die entspre-
chende Kritik an den Legalisierungsabsichten der Luxemburgischen Regierung (Rn. 256), an der Rechts-
lage in den Niederlanden (Rn. 266), in Uruguay (Rn. 636) sowie in verschiedenen europäischen Staaten
(Rn. 819).
47 Vgl. INCB-Jahresbericht 2021, Rn. 197 ff., 545,
https://www.incb.org/documents/Publications/Annual-
Reports/AR2021/Annual_Report/E_INCB_2021_1_eng.pdf, mit Hinweisen zur entsprechenden Situation
u.a. in Mexiko nach der Entscheidung des Mexikanischen Supreme Courts zum verfassungsrechtlichen
Anspruch auf privaten Cannabiskonsum.
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
VI. Europarechtliche Grenzen einer Cannabis-Legalisierung
Auch das Europarecht kennt Regeln über die Drogenbekämpfung. Diese Regeln resultie-
ren zum einen aus der Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens gegen den illegalen
Drogenhandel und die organisierte grenzüberschreitende Kriminalität in einem von phy-
sischen Binnengrenzen weitgehend befreiten Raum. Zum anderen dienen sie ihrerseits
der gemeinsamen Umsetzung des UN-Drogenbekämpfungsrechts. Die Notwendigkeit
dazu ergibt sich schon aus dem Umstand, dass nicht nur sämtliche Mitgliedstaaten Ver-
tragsparteien aller einschlägigen UN-Übereinkommen sind. Auch die Europäische Union
als solche ist Vertragspartei des UN-Übereinkommens gegen den illegalen Drogenhandel
von 1988.48
Europarechtliche Grenzen der geplanten Cannabis-Legalisierung ergeben sich deshalb
zum einen aus dem Schengener Durchführungsübereinkommen von 198549 und zum an-
deren aus dem Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates von 2004.50
A.
Das Schengener Durchführungsübereinkommen
Das Schengener Durchführungsübereinkommen von 1985 (im Folgenden „SDÜ 1985“)
dient der Bekämpfung von Gefahren, die sich aus dem Wegfall der Grenzkontrollen zwi-
26
schen den Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens ergeben. Zu den Vertrags-
staaten zählen neben anderen Deutschland und alle seine Nachbarstaaten.
Titel III Kapitel 6 SDÜ 1985 enthält eine ganze Reihe von Regelungen zum Umgang mit
Drogen.
So verpflichten sich die Vertragsparteien nach Art. 71 Abs. 1 SDÜ 1985,
48 Die Vertragsunterzeichnung wurde schon seinerzeit begleitet von intensiven Diskussionen um die Frage
der Cannabis-Legalisierung. Namentlich das Europäische Parlament setzte hierzu im zeitlichen Umfeld der
Vertragsunterzeichnung zwei Untersuchungsausschüsse ein, die auch mit Blick auf Cannabis mehrheitlich
eine prohibitive europäische Kontrollpolitik befürworteten, vgl. European Parliament, Report drawn up on
behalf of the committee of enquiry into the drugs problem in the Member States of the Community, 1986–
1987, pe 106.715/B/fin.corr. (Berichterstatter:
J. Stewart-Clark); European Parliament, Report drawn up
by the committee of enquiry into the spread of organized crime linked to drugs trafficking in the Member
States of the European Community, 1991–1992, pe 152.380/fin. (Berichterstatter:
P. Cooney).
49 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen v. 14.6.1985 zwischen den Re-
gierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französi-
schen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, Abl. EU
L 239 v. 22.9.2000, 19 ff.
50 Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates v. 25.10.2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die
Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, ABl.
2004, L 335/8.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
„in Bezug auf die unmittelbare oder mittelbare Abgabe von Suchtstoffen und psy-
chotropen Stoffen aller Art einschließlich Cannabis und den Besitz dieser Stoffe
zum Zwecke der Abgabe oder Ausfuhr unter Berücksichtigung der bestehenden
Übereinkommen der Vereinten Nationen alle notwendigen Maßnahmen zu tref-
fen, die zur Unterbindung des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln erfor-
derlich sind.“
Zugleich verpflichten sich die Vertragsparteien in Art. 71 Abs. 2 SDÜ 1985,
„die unerlaubte Ausfuhr von Betäubungsmitteln aller Art einschließlich Cannabis-
Produkten sowie den Verkauf, die Verschaffung und die Abgabe dieser Mittel mit
verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Mitteln zu unterbinden.“
Während die eben genannten Bestimmungen die Unterbindung des Cannabis-Angebots
fordern, enthält Art. 71 Abs. 5 SDÜ 1985 Regelungen zur Nachfrage: Zur „Eindämmung
der unerlaubten Nachfrage nach Suchtstoffen und psychotropen Stoffen aller Art ein-
schließlich Cannabis“ verpflichten sich die Vertragsparteien ihr Möglichstes zu tun, um
„den negativen Folgen dieser unerlaubten Nachfrage vorzubeugen und entgegenzuwir-
ken. Die Maßnahmen dazu liegen im Verantwortungsbereich der einzelnen Vertragspar-
27
teien.“
Das SDÜ 1985 zielt damit gemäß seiner zentralen Zielsetzung der Bekämpfung von Ge-
fahren des grenzüberschreitenden Drogenverkehrs vor allem auf die Unterbindung des
Angebots und des Handels mit Drogen. Dagegen fallen die entsprechenden Regelungen
zur Nachfrage und damit zur Frage des Drogenkonsums insoweit weniger deutlich und
stringent aus, als diese Maßnahmen dem Verantwortungsbereich der einzelnen Vertrags-
parteien zugewiesen werden. Diesen soll damit ersichtlich ein gewisser Regulierungs-
spielraum hinsichtlich der Frage der Bekämpfung der Drogensucht und des Drogenkon-
sums eingeräumt werden.
B.
Rahmenbeschluss zum Drogenhandel
Ausdrückliche europarechtliche Grenzen einer Cannabis-Legalisierung setzt schließlich
auch der Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates von 2004 zur Festlegung von Mindest-
vorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Be-
reich des illegalen Drogenhandels (im Folgenden „RB 2004“).
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Schon ausweislich seines Titels zielt der Rahmenbeschluss ausdrücklich auf die Schaf-
fung eines Mindeststrafbarkeitsrahmens für den Bereich des Drogenhandels ab. Der Rah-
menbeschluss enthält dementsprechend Mindestvorgaben für die notwendige Kriminali-
sierung des Drogenhandels durch die Mitgliedstaaten.
Nach Art. 2 Abs. 1 RB 2004 trifft jeder EU-Mitgliedstaat
„die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche
Handlungen unter Strafe gestellt werden, wenn sie ohne entsprechende Berechti-
gung vorgenommen wurden:
a) das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Ver-
teilen, Verkaufen, Liefern — gleichviel zu welchen Bedingungen —, Vermitteln,
Versenden — auch im Transit —, Befördern, Einführen oder Ausführen von Dro-
gen;
b) das Anbauen des Opiummohns, des Kokastrauchs oder der Cannabispflanze;
c) das Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der unter Buchstabe
a) aufgeführten Handlungen vorzunehmen; […]“.
28
Diese Formulierungen bringen einerseits klare Kriminalisierungspflichten der Mitglied-
staaten zum Ausdruck. Die Mitgliedstaaten sind danach gerade nicht frei darin, sich für
oder gegen eine mit den Mitteln des Strafrechts operierende Drogenbekämpfungspolitik
zu entscheiden. So müssen insbesondere der Drogenanbau, die Drogenproduktion und
der Drogenhandel in allen ihren verschiedenen Erscheinungsformen unter Strafe gestellt
werden.
Andererseits wird die Verpflichtung zur Kriminalisierung schon an dieser Stelle insoweit
beschränkt, als der bloße Besitz und das Kaufen von Drogen nur dann unter Strafe gestellt
werden muss, als er seinerseits mit dem Ziel des Drogenanbaus, der Drogenproduktion
oder des Drogenhandels erfolgt. Ein Besitz und Kauf von Drogen, der diese Ziele nicht
verfolgt, sondern allein legalen Zielen oder dem privaten Konsum dient, ist demnach von
der Verpflichtung zur Kriminalisierung ausgenommen.
Noch weitergehend fallen nach Art. 2 Abs. 2 RB 2004 Handlungen nach Absatz 1
„nicht in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses, wenn die Täter sie
ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts be-
gangen haben.“
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Nach dieser Vorschrift müssen die Mitgliedstaaten auch Handlungen des Drogenanbaus,
der Drogenproduktion und des Drogenhandels dann nicht kriminalisieren, wenn diese
Handlungen ausschließlich für den „persönlichen Konsum“ der „Täter“ erfolgen.
Diese letztgenannte Ausnahme von der grundsätzlich strengen Kriminalisierungspflicht
bildet die unionsrechtliche Grundlage für die Entkriminalisierung des privaten Can-
nabiskonsums und teilweise und in engen Grenzen auch des privaten Cannabisanbaus in
einer Reihe von Mitgliedstaaten der Union. Sie ist nach der allgemeinen Auslegungspra-
xis, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs,51 als Ausnahme von der Regel in allen
ihren Elementen eng auszulegen.52
29
51 Beispielhaft: EuGH, Rs. C‑546/11, Urt. v. 26.9.2013 – Dansk Jurist- og Økonomforbund, Rn. 41; EuGH,
Rs. C-212/13, Urt. v. 11.12.2014 – Ryneš, Rn. 29; EuGH, Rs. C-289/16, Urt. v. 12.10.2017- Kamin und
Grill Shop, Rn. 20, st. Rspr. Vgl. auch GA
Jääskinen, Schlußantr. v. 10.7.2014, Rs. C-212/13 – Ryneš,
Rn. 48; GA
Sharpston, Schlußantr. v. 14.11.2013, Rs. C-390/12 – Pfleger, Rn. 45; GA
Colomer, Schluß-
antr. v. 25.6.2009, Rs. C-205/08 – Umweltanwalt von Kärnten, Rn. 69; GA
Colomer, Schlußantr. v.
9.12.2004, Rs. C-327, 328/03 – ISIS Multimedia und Firma, Rn. 52; GA
Alber, Schlußantr. v. 25.4.2002,
Rs. C-108/01 – Consorzio del Prosciutto di Parma und Salumificio S. Rita, Rn. 99; GA
Alber, Schlußantr.
v. 25.4.2002, Rs. C-469/00 – Ravil, Rn. 94; GA
Bot, Schlußantr. v. 20.6.2013, Rs. C-309/12 – Gomes Viana
Novo, Rn. 26.
52 Vgl. dazu eingehend:
Herberger, „Ausnahmen sind eng auszulegen“ – Die Ansichten beim Gerichtshof
der Europäischen Union, 2017;
Schilling, Singularia non sunt extendenda: die Auslegung der Ausnahme in
der Rechtsprechung des EuGH, EuR 1996, 44 ff.;
von Danwitz, Regel und Ausnahme im Steuerrecht –
Gedanken aus der Perspektive des Europarechts und der Praxis des Gerichtshofes der Europäischen Union,
HFSt 12, 2019, S. 16 ff.
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
VII. Untaugliche rechtliche Ansätze zu einer umfassenden Canna-
bis-Legalisierung
Nach der obigen Darstellung verlangen sowohl die einschlägigen völkerrechtlichen Über-
einkommen als auch das Recht der Europäischen Union eine staatliche Politik der Krimi-
nalisierung und Unterdrückung des Handels mit und wenigstens teilweise auch des An-
baus und des Konsums von Cannabis.
Allerdings werden in Teilen der Literatur zahlreiche Ansätze zu einer Relativierung die-
ser Kriminalisierungsvorgaben des internationalen und europäischen Rechts diskutiert.
Der rechtlichen Validität bzw. Umsetzbarkeit dieser Relativierungsansätze53 gelten die
folgenden Untersuchungen.
A.
(Änderungs)-Kündigung der völkerrechtlichen Abkommen
Ein naheliegender und breit diskutierter Weg zur Beseitigung der völkerrechtlichen Ver-
pflichtungen zum Verbot von Cannabis könnte die Kündigung der entsprechenden völ-
kerrechtlichen Übereinkommen zur Drogenbekämpfung sein. Da auch die Bundesregie-
rung das internationale Vertragsregime zur Drogenbekämpfung aber ersichtlich nicht
grundsätzlich und umfassend ablehnt, käme insoweit allenfalls der rechtlich anspruchs-
30
volle Versuch einer Änderungskündigung in Betracht.54
53 Nicht näher betrachtet wird im Folgenden lediglich der singulär gebliebene Ansatz von
Lichtenthä-
ler/Oğlakcıoğlu/Sobota, „Wenn die Ampel auf Grün schaltet...“: Neuralgische Punkte einer Cannabisfrei-
gabe, NK 2022, 228 (233 ff.), wonach die von der Bundesregierung geplante Cannabis-Legalisierung ins-
gesamt als wissenschaftliches Experiment zu betrachten und deshalb als wissenschaftlichen Zwecken die-
nende Cannabis-Bereitstellung völkervertragsrechtlich zulässig sein soll. Die entsprechende These ver-
kennt offensichtlich sowohl die Intentionen der Bundesregierung als auch die Reichweite des entsprechen-
den Ausnahmetatbestandes des UN-Rechts.
54 Der gelegentlich alternativ oder zusätzlich diskutierte Weg einer die Vorgaben des UN-Drogenbekämp-
fungsregimes verändernden „inter-se“-Vereinbarung zwischen Staaten, die eine Veränderung der Canna-
bis-Prohibition anstreben, hat zu Recht weniger Beachtung erfahren. Eine solche Vereinbarung setzte nach
Art. 41 Abs. 1 b) ii) des Wiener Vertragsübereinkommens (WVK) nämlich unter anderem voraus, dass sich
die „inter-se“-Vereinbarung „nicht auf eine Bestimmung bezieht, von der abzuweichen mit der vollen Ver-
wirklichung von Ziel und Zweck des gesamten Vertrages unvereinbar ist.“ Eben eine solche grundsätzliche
Abweichung wäre aber das (unzulässige) Ziel einer entsprechenden Vereinbarung. Dies vernachlässigen
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung der „ohne entsprechende Berech-
tigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2004/757/JI über illegalen Drogenhan-
del, 2023 (i.E.). Zudem modifizierte eine „inter-se“-Vereinbarung die Verpflichtungen des völkerrechtli-
chen Vertrages gem. Art. 41 WVK auch nur zwischen den Parteien der „inter-se“-Vereinbarung („aus-
schließlich im Verhältnis zueinander“), nicht aber im Verhältnis zu den an dieser Vereinbarung nicht teil-
nehmenden Vertragsstaaten. Dementsprechend verstehen
Boister/Jelsma, Inter se Modification of the UN
Drug Control Conventions – An Exploration of its Applicability to Legitimise the Legal Regulation of
Cannabis Markets, International Community Law Review 20 (2018), 457 ff., “inter-se”-Vereinbarungen
auch in erster Linie als rechtspolitisches Instrument.
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link to page 9
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Schon der oben erwähnte Entwurf der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
für ein Cannabiskontrollgesetz,55 schlug deshalb vor, dass die Bundesrepublik die ent-
sprechenden völkerrechtlichen Verbotsabkommen kündigen und anschließend mit einem
auf Cannabis bezogenen Vorbehalt wieder beitreten sollte.56
1.
Völkerrechtliche und diplomatische Risiken
Ein solches Vorgehen wäre für Deutschland rechtlich und diplomatisch nicht ohne Risi-
ken. In der Vergangenheit hat Bolivien eine solche „Änderungskündigung“ im Hinblick
auf die traditionell in Bolivien konsumierte Coca-Pflanze erfolgreich umgesetzt.57 Die
erfolgreiche Umsetzung dieses Vorgehens setzt allerdings nach Art. 50 Abs. 3 SC 1961
voraus, dass nicht mehr als ein Drittel der anderen Vertragsstaaten innerhalb von zwölf
Monaten widersprechen. Im Fall Boliviens wurde dieses Veto-Quorum nicht erreicht, ob-
wohl sechzehn Staaten – und unter ihnen auch Deutschland – dem bolivianischen Ansin-
nen entgegentraten.58
Der Erfolg eines auf die Relativierung des Cannabis-Verbots gerichteten entsprechenden
Vorgehens Deutschlands ist nicht sicher vorherzusagen. Anders als in Bolivien im Fall
der Coca-Pflanze kann sich Deutschland kaum auf eine traditionelle Kultur des Cannabis-
31
Konsums berufen. Zudem geht das Legalisierungsvorhaben Deutschlands im internatio-
nalen Vergleich besonders weit. Eine hinreichend große Zahl der Staaten, die dem Trend
zur Cannabis-Legalisierung skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen, könnten einen
solchen Versuch der Änderungskündigung zum Anlass nehmen, um ihre Entschiedenheit
im Sinne einer repressiven Drogenpolitik deutlich zu machen.
2.
Völkerrechtliche Kündigung und Europarecht
Fraglich erscheint darüber hinaus, ob sich Deutschland durch eine Änderungskündigung
der völkerrechtlichen Übereinkommen zur Drogenbekämpfung überhaupt wirksam aus
seinen entsprechenden Verpflichtungen lösen könnte.
55 Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, BT-Drs. 18/4204 v. 4.3.2015, vgl. zu diesem bereits o.
IV.C. 56 Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, BT-Drs. 18/4204 v. 4.3.2015, S. 45 f.
57 Vgl. dazu kritisch:
INCB, Jahresbericht 2011, S. 4.
58 Vgl. dazu
Jelsma, German cannabis regulation on thin ice – The government’s risky approach to inter-
national legal obstacles puts the entire project in jeopardy, 2022,
https://www.tni.org/en/article/german-
cannabis-regulation-on-thin-ice. Ursprünglich erhoben siebzehn Staaten Einwände. Mexiko hat seinen Ein-
wand aber zwischenzeitlich förmlich zurückgezogen, vgl.
Walsh, Analysis of the trend to legalize the non-
medical use of drugs with an emphasis on cannabis, wola.org, 25.5.2022,
https://www.wola.org/analy-
sis/incb-hearing-legalization-trend-of-non-medical-use-drugs/. ______________________________________________________________________
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Dem könnte insbesondere die bereits oben skizzierte59 eigenständige Verpflichtung der
Europäischen Union zum Cannabis-Verbot entgegenstehen. Wie bereits aufgezeigt, ist
auch die Europäische Union als solche Vertragspartei des UN-Übereinkommens gegen
den illegalen Drogenhandel. Weil sowohl sämtliche EU-Mitgliedstaaten als auch die
Union als solche Vertragspartei sind, handelt es sich um ein sog. „Gemischtes Abkom-
men“.60
Nach Art. 216 Abs. 2 AEUV sind die von der Union abgeschlossenen völkerrechtlichen
Verträge aber nicht nur für die Organe der Union, sondern auch für die Mitgliedstaaten
verbindlich. Eine isolierte Änderungskündigung Deutschlands würde dessen rechtliche
Lage deshalb nicht grundsätzlich ändern. Vielmehr muss Deutschland als Mitgliedstaat
der Union die von der Union eingegangenen Verpflichtungen auch als eigene europa-
rechtliche Verpflichtung weiter erfüllen.
Die völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Cannabis-Verbot bekommen durch die Rati-
fizierung des Übereinkommens gegen den illegalen Drogenhandel durch die Europäische
Union aus nationaler Perspektive sogar noch besonderes Gewicht. Sie werden so nämlich
zugleich zu unionsrechtlichen Verpflichtungen und partizipieren so am Vorrang des Uni-
32
onsrechts. Zudem können die EU-Kommission sowie andere Mitgliedstaaten eine Ver-
letzung dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen der Union durch Deutschland im Wege
des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258, 259 AEUV vor dem EuGH rügen.61
Dies gilt jedenfalls für diejenigen Elemente der von der Union übernommenen völker-
rechtlichen Verpflichtungen, die nach der internen Zuständigkeitsverteilung in die Kom-
petenz der EU fallen. Eine solche Kompetenz besteht ohne weiteres hinsichtlich der Fra-
gen des grenzüberschreitenden Drogenhandels. Die Europäische Union hat darüber hin-
aus ihre Zuständigkeiten zu einem weitgehenden Cannabis-Verbot mit dem SDÜ 1985
und dem RB 2004 auch bereits ausgeübt.
Eine rechtlich belastbare Änderungskündigung der völkerrechtlichen Übereinkommen
zur Drogenbekämpfung setzte demnach eine gleichzeitige Änderungskündigung jeden-
falls auch des UN-Übereinkommens gegen den illegalen Drogenhandel durch die Euro-
päische Union und damit zugleich ein mit den anderen EU-Mitgliedstaaten abgestimmtes
59 Vgl. o.
VI. 60 Näher zu den Rechtswirkungen gemischter Übereinkommen:
Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert,
EUV/AEUV, 62022, Art. 216, Rn. 42 ff.
61 Allgemeine Meinung, vgl. nur
Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 62022, Art. 258, Rn. 34.
______________________________________________________________________
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
gemeinsames Vorgehen voraus. In der Folge könnten – und müssten – dann auch die
unionsrechtlichen Rechtsakte zur Drogenbekämpfung entsprechend angepasst werden.
Ein isoliertes völkerrechtliches Vorgehen Deutschlands verspricht insoweit also keinen
Erfolg.
B.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung?
Nicht zuletzt wegen der erheblichen – und lange unterschätzten – Schwierigkeiten einer
völkervertragsrechtlichen Änderungskündigung bemühen sich Teile der legalisierungs-
freundlichen Literatur schon seit längerem um die Entwicklung interpretatorischer An-
sätze zur Relativierung der völkervertragsrechtlichen und europarechtlichen Cannabis-
Kriminalisierungsverpflichtungen. Diese sollen eine Cannabis-Legalisierung auch ohne
Kündigung der völkerrechtlichen Verträge zur Drogenbekämpfung und im Einklang mit
den unionsrechtlichen Drogen-Kriminalisierungsvorgaben erlauben.62
1.
Textliche Anknüpfung
Als Hauptansatz zur Relativierung des völker- und europarechtlichen Cannabis-Verbots
wird von Teilen der Literatur dabei der bereits oben angesprochene63 „Verfassungsvor-
behalt“ angesehen.64 Dabei geht es zunächst um die Relativierung der besonders strin-
33
genten Verbotsverpflichtungen des internationalen Rechts. Nach Art. 3 Abs. 2 des UN-
Übereinkommens gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen von 1988 steht die
Verpflichtung der Vertragsstaaten zur strafrechtlichen Pönalisierung des Besitzes, des
Kaufs und des Anbaus von Suchtstoffen oder psychotropen Stoffen für den persönlichen
Verbrauch unter einem Vorbehalt („vorbehaltlich ihrer Verfassungsgrundsätze und der
Grundzüge ihrer Rechtsordnung“ / „subject to its constitutional principles and the basic
concepts of its legal system“). Auch in Art. 36 Abs. 1 SC 1961 lässt sich – wie oben
bereits aufgezeigt65 – ein entsprechender Vorbehalt finden.
62 Eingehend dazu auch
van Kempen/Fedorova, International Law and Cannabis II: Regulation of Cannabis
Cultivation and Trade for Recreational Use: Positive Human Rights Obligations versus UN Narcotic Drugs
Conventions,
2019,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
ii/A856A0CE847E8ADAAEA19F760191FDBE. 63 Vgl. dazu o
. V.A.1. 64 Weitgehend:
Ambos, Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, VerfBlog,
20.5.2022,
https://verfassungsblog.de/zur-volkerrechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisie-
rung. Ausdrücklich beschränkt auf eine verfassungsrechtlich gebotene Entkriminalisierung des privaten
Cannabis-Konsums kleiner Mengen durch Erwachsene:
Sommer, Sondervotum zu BVerfG, Beschluss v.
9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 248 ff.
65 Vgl dazu o.
V.A.1. ______________________________________________________________________
link to page 22
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Die Bundesregierung hat anlässlich der Ratifikation des IT 1988 folgende Interpreta-
tionserklärung66 abgegeben: “It is the understanding of the Federal Republic of Germany
that the basic concepts of the legal system referred to in article 3, paragraph 2 of the
Convention may be subject to change”. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass
das IT 1988 aus deutscher Sicht einer eventuellen späteren Entkriminalisierung nicht ent-
gegensteht.67
2.
Potentielle Entkriminalisierung nur des persönlichen Verbrauchs
Bevor die potentielle Geltendmachung dieses Verfassungsvorbehalts näher untersucht
werden kann, ist zunächst einschränkend darauf hinzuweisen, dass der Vorbehalt aus-
weislich des klaren Wortlauts und der Systematik des bereits oben dargestellten68 Art. 3
IT 1988 allein eine Entkriminalisierung des Besitzes, Kaufs oder Anbaus von Cannabis
„für den persönlichen Verbrauch“ rechtfertigen kann. Für alle nicht dem unmittelbaren
persönlichen Verbrauch dienende Handlungen des Anbaus, der Produktion, des Trans-
ports, des Handels und des Angebots von Cannabis kennt Art. 3 Abs. 1a IT 1988 gerade
keinen Verfassungsvorbehalt.
Das UN-Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen von 1988 dif-
34
ferenziert damit – die Bestimmungen des Einheitsübereinkommen von 1961 insoweit
noch verschärfend – ausdrücklich zwischen einem überindividuellen Drogenhandel, der
von den Vertragsstaaten jedenfalls und ausnahmslos zu kriminalisieren ist (Art. 3 Abs. 1a
IT 1988), und dem individuellen Besitz, Kauf und Anbau für den persönlichen Ver-
brauch, der zwar grundsätzlich auch kriminalisiert werden soll, gegenüber dessen Krimi-
nalisierung aber gegebenenfalls ein Verfassungsvorhalt geltend gemacht werden kann
(Art. 3 Abs. 2 IT 1988).
66 Zur Unterscheidung von völkerrechtlichen Interpretationserklärungen und Vorbehalten nach Art. 2
Abs. 1 lit. d WVRK:
v. Arnauld, Völkerrecht, 42019, Rn. 214.
67 In der Bewertung wie hier: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Cannabis-Leglaisie-
rung im Lichte des Völkerrechts, WD 2-3000-057/22, S. 5, unter Hinweis auf Kurzprotokoll der 76. Sitzung
des Rechtsausschusses des 12. Deutschen Bundestages am 12.5.1993, S. 45-47, in dem die damalige Bun-
desjustizministerin
Leutheuser-Schnarrenberger darauf hingewiesen hat (S. 47), dass die Erklärung ermög-
licht, „dass zu gegebener späterer Zeit auch möglicherweise einmal über das „Ob“ der Bestrafung im unte-
ren Deliktsbereich nachgedacht werde.“
68 Vgl. o.
V.C. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Diese Differenzierung zwischen dem überindividuellen Drogenhandel und dem individu-
ellen Handeln zum persönlichen Verbrauch findet sich auch in den bereits oben darge-
stellten Bestimmungen des Unionsrechts, die ihrerseits der Umsetzung insbesondere des
IT 1988 dienen.
Trotz dieser eindeutigen Differenzierung wird in der Literatur vereinzelt der Versuch un-
ternommen, auch die von der Bundesregierung geplante Zulassung einer nationalen Pro-
duktion und eines allgemeinen Handels mit Cannabis als notwendiges Korrelat eines pri-
vaten Konsums völker- und europarechtlich über den Verfassungsvorbehalt zu rechtfer-
tigen. Die entsprechenden Argumentationen bleiben allerdings bemerkenswert vage und
erscheinen bei näherer Betrachtung als kaum mehr denn zirkuläre rechtspolitische Postu-
late. Der Verfassungsvorbehalt soll sich entgegen dem Wortlaut der Bestimmungen auch
auf ein staatliches oder staatlich kontrolliertes System der Cannabis-Produktion und des
Cannabis-Handels erstrecken, weil man nur so „einen durchgängig legalen (staatlich kon-
trollierten) Cannabismarkt erreichen“ und „niederländische Verhältnisse – Entstehung
krimineller Strukturen zur illegalen Produktion/Lieferung der dann legal abgegebenen
Drogen („Hintertürproblematik“)“ – vermeiden könne.69 In eine ähnliche Richtung gehen
Argumentationen, wonach vor dem Hintergrund der Option zur Entkriminalisierung des
35
privaten Konsums „das verfassungsrechtlich verbürgte Prinzip der Konsistenz des
Rechts“ auch eine legale staatlich organisierte Versorgung erwachsener Konsumenten
mit Cannabis gebiete.70
Unabhängig von der rechtspolitischen Bewertung einer Cannabis-Legalisierung vermö-
gen diese Argumentationen rechtlich jedenfalls nicht überzeugen. Der völkervertrags-
rechtliche Verfassungsvorbehalt dient ebenso wie der europarechtliche Vorbehalt zu-
gunsten des persönlichen Verbrauchs nach dem klaren Wortlaut und nach der klar er-
kennbaren Intention der jeweiligen Normsetzer allein der Ermöglichung einer Entkrimi-
nalisierung des individuellen Verhaltens der Drogenkonsumenten. Nur insoweit wird den
Vertragsparteien der UN-Abkommen bzw. den EU-Mitgliedstaaten eine Entkriminalisie-
rungsoption eingeräumt. Aus völkervertragsrechtlicher Sicht ist dies ein Zugeständnis an
69
Ambos, Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, VerfBlog, 20.5.2022,
https://verfassungsblog.de/zur-volkerrechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisierung. 70
Lutzhöft/Hendel, Legalisierung impossible? EU- und völkerrechtskonforme Optionen für eine Legalisie-
rung von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland, 2022,
https://www.twobirds.com/de/in-
sights/2022/germany/legalisierung-impossible-eu-und-voelkerrechtskonforme-optionen-fuer-eine-legali-
sierung-von-cannabis. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
mögliche verfassungsrechtliche Schranken einer Kriminalisierung allein der Konsumen-
ten und damit eine klar umgrenzte Ausnahme im ansonsten umfassend angelegten Dro-
gen-Prohibitionssystem der UN. Aus dieser Ausnahme kann nicht die Zulässigkeit eines
den Prohibitionsansatz konterkarierenden Modells staatlich organisierten oder lizensier-
ten Drogenanbaus und Drogenhandels geschlossen werden. Jede gegenteilige Annahme
steht in einem rechtlich letztlich nicht zu überwindenden Widerspruch zu den zahlreichen
Bestimmungen, insbesondere der UN-Übereinkommen, die explizit auf eine ausnahms-
lose Unterdrückung insbesondere des Drogenangebots abzielen.71 Dabei ist auch darauf
hinzuweisen, dass entgegen der oben angeführten rechtspolitischen Thesen eine grund-
sätzliche Prohibitionsstrategie durch einen Verzicht auf eine strafrechtliche Verfolgung
allein der Konsumenten ihrerseits nur relativiert, aber nicht grundsätzlich entwertet wird.
Sowohl das UN-Drogenbekämpfungsrecht als auch die entsprechenden Bestimmungen
des EU-Rechts haben sich bewusst und ausdrücklich allein für eine solche vertragsstaat-
liche Option zur Teilrelativierung der Prohibitionsvorgaben, aber zugleich gegen eine
Möglichkeit zu ihrer vollständigen Negierung entschieden.72
36
71 In Argumentation und Ergebnis grundsätzlich wie hier:
Bewley-Taylor/Jelsma, The UN drug control
conventions – The Limits of Latitude, tni.org, 2012,
https://www.tni.org/files/download/dlr18.pdf;
Fijnaut/De Ruyver, The Third Way – A Plea for a Balanced Cannabis Policy, 2015, 205;
Hofmann, Das
Cannabis-Dilemma – Rechtliche Hürden der Cannabis-Legalisierung in Deutschland und Europa,
VerfBlog, 23.11.2021,
https://verfassungsblog.de/das-cannabis-dilemma/; ders., Welche Probleme das
Cannabiskontrollgesetz lösen muss - Deutschlands Cannabis-Dilemma Teil 2, VerfBlog, 15.7.2022,
https://verfassungsblog.de/cannabis-2/; ders., Cannabis Legalization in Germany – The Final Blow to Eu-
ropean Drug Prohibition?, European Law Blog, 11.1.2022,
https://europeanlawblog.eu/2022/01/11/canna-
bis-legalization-ingermany-the-final-blow-to-european-drug-prohibition/; ders., Deutschlands Cannabis-
Dilemma, ZIS 2022, S. 191 ff.;
Jelsma, German cannabis regulation on thin ice – The government’s risky
approach
to
international
legal
obstacles
puts
the
entire
project
in
jeopardy,
2022,
https://www.tni.org/en/article/german-cannabis-regulation-on-thin-ice; van Kempen/Fedorova, Interna-
tional Law and Cannabis I, Cambridge 2019,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-
and-cannabis-i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125; Scheerer, Cannabis als Genussmittel?, ZRP
1996, 187 ff.;
Walsh, Can Cannabis be regulated in accord with International Law?, Washington Office on
Latin America (WOLA), online analysis, 14.11.2018,
https://www.wola.org/analysis/cancannabis-regu-
lated-accord-international-law/. 72 Diese klare Rechtslage dürfte im Übrigen auch der Grund dafür sein, dass die oben angeführten Verfech-
ter der gegenteiligen Position die Belastbarkeit der eigenen Thesen selbst als gering einschätzen. So ist
insoweit etwa davon die Rede, dass „sich die Friktionen […] mit dem geltenden völkerrechtlichen Drogen-
kontrollregime nicht vollständig normativ weginterpretieren“ ließen (
Ambos, Zur völkerrechtlichen Zuläs-
sigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, VerfBlog, 20.5.2022,
https://verfassungsblog.de/zur-volker-
rechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisierung). Und andere empfehlen mit Blick auf die auch
von ihnen eingeräumten rechtlichen Unsicherheiten am Ende nurmehr einen „pragmatischen Ansatz einer
‚Legalisierung light‘“, die sich darauf beschränken soll, „den Zugang erwachsener Verbraucher zu Canna-
bis innerhalb des bestehenden medizinischen Regimes zu vereinfachen“,
Lutzhöft/Hendel, Legalisierung
impossible? EU- und völkerrechtskonforme Optionen für eine Legalisierung von Cannabis zu Genusszwe-
cken in Deutschland, 2022,
https://www.twobirds.com/de/insights/2022/germany/legalisierung-impos-
sible-eu-und-voelkerrechtskonforme-optionen-fuer-eine-legalisierung-von-cannabis. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Der Verfassungsvorbehalt kann daher allenfalls eine ausnahmsweise Entkriminalisierung
des persönlichen Verbrauchs und seiner individuellen persönlichen und unmittelbaren
Vorbereitungshandlungen, nicht aber ein staatliches oder staatlich angeleitetes System
der Drogenproduktion und des Drogenhandels rechtfertigen.
3.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung nach dem Grundgesetz?
Eine Berufung auf den Verfassungsvorbehalt setzte im Übrigen weiterhin voraus, dass
die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums in Deutschland verfassungsrechtlich ge-
boten wäre. Anknüpfungspunkt dafür könnte insbesondere die Allgemeine Handlungs-
freiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG sein. Diese könnte entweder als „Recht auf Rausch“ oder
zumindest als verfassungsrechtliche Grenze der Cannabis-Kriminalisierung verstanden
werden. Grenzen der bei Drogendelikten angedrohten Gefängnisstrafen könnten sich dar-
über hinaus aus dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergeben. Als verfassungs-
rechtlich problematisch könnte sich auch die an Art. 3 Abs. 1 GG zu messende Ungleich-
behandlung von Cannabis und legalen Drogen wie Alkohol oder Nikotin erweisen.73
a)
Der Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Allerdings stand und steht das deutsche Verfassungsrecht jedenfalls nach herrschender
37
Meinung einer Cannabis-Kriminalisierung gerade nicht entgegen. Verfassungsbeschwer-
den und Normenkontrollverfahren, die eine vermeintliche Verfassungswidrigkeit gerade
der Cannabis-Kriminalisierung explizit behaupteten, hatten vor dem Bundesverfassungs-
gericht keinen Erfolg. Im Gegenteil hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Canna-
bis-Beschluss von 1994 ausdrücklich festgestellt, dass die Verfassung weder ein „Recht
auf Rausch“ vermittle, noch einer grundsätzlichen Cannabis-Kriminalisierung im Wege
stehe.74 Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit vor allem auf den Entscheidungs-
und Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers abgestellt, der vom Gericht nur in begrenz-
tem Umfang überprüft werden könne.75 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht seiner-
seits auch ausdrücklich die internationalrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands zur
73 So im verfassungsrechtlichen Prüfungsansatz auch schon BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51,
63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 116.
74 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 116 ff.
75 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 122, 124,
151.
______________________________________________________________________
link to page 33
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Cannabis-Kriminalisierung hervorgehoben und diese Verpflichtungen ihrerseits als er-
gänzendes Argument für die Verfassungskonformität der Cannabis-Kriminalisierung ge-
wertet.76
Nach diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben hat das Bundesverfassungsgericht nicht
nur das strafbewehrte Verbot des „Handeltreibens“ mit Cannabis für verfassungsrechtlich
unbedenklich erklärt,77 sondern auch die grundsätzliche Strafbewehrung des Erwerbs und
Besitzes kleiner Cannabismengen für den gelegentlichen Eigenverbrauch.78 Allerdings
hat das Gericht hinsichtlich des letzteren dessen regelmäßig geringen Unrechts- und
Schuldgehalt hervorgehoben und die einschlägigen Strafvorschriften nur deshalb als ver-
fassungskonform beurteilt, „weil der Gesetzgeber es den Strafverfolgungsorganen er-
möglicht habe, durch das Absehen von Strafe […] oder Strafverfolgung […] einem ge-
ringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen.“ In diesen
Fällen müssten „die Strafverfolgungsorgane nach dem Übermaßverbot von der Verfol-
gung der in § 31a BtMG bezeichneten Straftaten grundsätzlich ab[…]sehen“.79
b)
Verfassungsrechtliche Neubewertung?
Um den völkervertragsrechtlichen Verfassungsvorbehalt überhaupt geltend machen zu
38
können, müsste Deutschland demnach eine gegenüber der Vergangenheit und insbeson-
dere gegenüber dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1994 veränderte Ver-
fassungsrechtslage behaupten.
Eine solche Veränderung der Verfassungsrechtslage erscheint nicht prinzipiell ausge-
schlossen.80 Wie bereits erwähnt, hat die Bundesregierung schon im Zuge der Ratifizie-
rung des Übereinkommens gegen den unerlaubten Drogenhandel auf eine solche Mög-
lichkeit hingewiesen.81 Auch war die verfassungsrechtliche Bewertung der umfassenden
Cannabis-Kriminalisierung schon 1994 im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts
nicht unumstritten. Die Entscheidung wurde von zwei Sondervoten begleitet, in denen
einerseits die Richterin
Graßhof eine auch weitergehende Cannabis-Kriminalisierung für
76 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 127, 151.
77 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 157 ff.
78 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 160 ff.
79 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Leitsatz 3.
80 Zur entsprechenden Entwicklung der Rechtsprechung des Mexikanischen Supreme Courts: INCB-Jah-
resbericht 2021, Rn. 197 ff.,
https://www.incb.org/documents/Publications/AnnualReports/AR2021/An-
nual_Report/E_INCB_2021_1_eng.pdf. 81 Vgl. dazu o
. VII.B.1. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
verfassungskonform82 und andererseits der Richter
Sommer die Kriminalisierung des pri-
vaten Cannabiskonsums kleiner Mengen durch Erwachsene für verfassungswidrig ansa-
hen.83 Gegenwärtig liegen dem Bundesverfassungsgericht erneut vier Aussetzungs- und
Vorlagebeschlüsse von drei Amtsgerichten vor, die Strafvorschiften des Betäubungsmit-
telgesetzes für verfassungswidrig halten, soweit sie sich auf Cannabis-Produkte beziehen.
Die Gerichte machen erneut geltend, das strafbewehrte Cannabisverbot greife unverhält-
nismäßig in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit ein.
Außerdem lasse sich die Strafbarkeit des Umgangs mit dem Rauschmittel Cannabis vor
dem Hintergrund der Legalität des Rauschmittels Alkohol nicht rechtfertigen und ver-
stoße daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG.84 Entgegen dieser Rechtsauffassungen hat allerdings
erst unlängst der Bundesgerichtshof die Verfassungskonformität des Cannabis-Verbots
bekräftigt und auf eine entsprechende Vorlage zum Bundesverfassungsgericht ausdrück-
lich verzichtet.85
Wie eine aktuelle verfassungsgerichtliche Bewertung der Cannabis-Kriminalisierung
ausfallen dürfte, ist deshalb nicht ohne weiteres vorherzusagen. Eine einschlägige Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgericht könnte noch im Jahr 2023 erfolgen.86 Einflüsse
auf die Bewertung dürfte neben der grundsätzlich veränderten Einschätzung der Bundes-
39
regierung auch die teilweise veränderte rechtspolitische Bewertung in anderen Mitglied-
staaten der Europäischen Union und in den USA haben. Gegenüber den Beschlussgrund-
lagen von 1994 dürfte sich allerdings in gegenteiliger Richtung auch die medizinische
Grundeinschätzung verändert haben. 1994 ging das Bundesverfassungsgericht in seiner
verfassungsrechtlichen Bewertung des Verbots nämlich noch von einer weitgehenden ge-
sundheitlichen Unbedenklichkeit des Cannabiskonsums aus. Gegenüber der derzeitigen
Lage dürften sich zum einen die tatsächlichen Umstände, insbesondere der stark gestie-
gene Wirkstoffgehalt der angebotenen Cannabis-Produkte, als auch die medizinischen
Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und psychotischen Erkran-
kungen verändert haben. Erstere wurden in dem Beschluss von 1994 nur auf einem deut-
lich geringeren Niveau und letztere noch gar nicht thematisiert.
82 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 191 ff.
83 BVerfG, Beschluss v. 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, Cannabis, Rn. 222 ff.
84 Anhängige Verfahren 2 BvL 3/20, 2 BvL 14/20, 2 BvL 5/21, 2 BvL 7/21.
85 BGH, Beschl. v. 23.6.2022 – 5 StR 490/21, Rn. 18.
86
Suliak, Cannabis-Legalisierung vor dem BVerfG – Sorgt Karlsruhe für die Entkriminalisierung?,
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/cannabis-legalisierung-bverfg-entkriminalisierung-ampel-karl-
lauterbach-btmg-richtervorlage/. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Auch wenn deshalb eine Vorhersage hinsichtlich einer möglichen verfassungsgerichtli-
chen Neubewertung der Cannabis-Kriminalisierung im Detail mit Unsicherheiten belastet
ist, so erscheint es doch schon mit Blick auf den vom Bundesverfassungsgericht zu be-
achtenden Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers hoch unwahr-
scheinlich, dass das Gericht dem Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Ent-
kriminalisierung nicht nur des privaten Konsums und ggfs. auch des privaten Anbaus,
sondern weitergehend eine Pflicht zur Entkriminalisierung auch der kommerziellen Can-
nabisproduktion und des Cannabishandels entnehmen wird. Die von der Bundesregierung
geplante Legalisierung eben dieser Produktion und dieses Handels wird sich also aller
Voraussicht nach auch zukünftig nicht auf eine entsprechende Verfassungsrechtslage
stützen können.
4.
Verfassungsvorbehalt und Europarecht
Schließlich ist auf das rechtlich komplexe Verhältnis der Verfassungsvorbehaltsargumen-
tation zum Europarecht hinzuweisen.
Der Verfassungsvorbehalt ergibt sich aus den entsprechenden Bestimmungen des Völ-
kervertragsrechts. Demgegenüber enthalten die einschlägigen Bestimmungen des Uni-
40
onsrechts keine entsprechenden Vorbehalte. Solche Vorbehalte finden sich weder im
Schengener Durchführungsübereinkommen noch im EU-Rahmenbeschluss von 2004.
Ungeachtet dessen findet sich in der Literatur die These, die Verfassungsvorbehalte des
Völkervertragsrechts entfalteten potentielle Wirkung auch gegenüber den entsprechenden
Cannabis-Verbotsvorgaben des Unionsrechts.87 Die nicht immer ganz deutliche Argu-
mentation hebt vor allem darauf ab, die europarechtlichen Bestimmungen zur Drogenbe-
kämpfung vollzögen „die völkerrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen“ lediglich nach.88
Dieser nachvollziehende Charakter der europarechtlichen Bestimmungen soll es rechtfer-
tigen, den in den europarechtlichen Bestimmungen ausdrücklich nicht enthaltenen Ver-
fassungsvorbehalt als implizite Schranke auch dieser Bestimmungen zu verstehen. Der
dem Völkervertragsrecht zu entnehmende Verfassungsvorbehalt wäre nach dieser Lesart
in die europarechtlichen Bestimmungen zur Drogenbekämpfung zu transferieren oder
87
Ambos, Nochmals: Cannabis-Entkriminalisierung und Europarecht, VerfBlog, 25.7.2022,
https://verfas-
sungsblog.de/nochmals-cannabis-entkriminalisierung-und-europarecht/.
88
Ambos, Nochmals: Cannabis-Entkriminalisierung und Europarecht, VerfBlog, 25.7.2022,
https://verfas-
sungsblog.de/nochmals-cannabis-entkriminalisierung-und-europarecht/; zuvor schon
ders., Zur völker-
rechtlichen Zulässigkeit der Cannabis-Entkriminalisierung, VerfBlog, 20.5.2022,
https://verfassungs-
blog.de/zur-volkerrechtlichen-zulassigkeit-der-cannabis-entkriminalisierung. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
hineinzulesen. In der Konsequenz dieser Lesart könne das Europarecht über die völker-
rechtlichen Vorgaben nicht hinausgehen und dürfe „deshalb auch zurecht weniger Beach-
tung“ finden.89
Diese juristisch mindestens anspruchsvolle These vermag bei näherer Analyse kaum zu
überzeugen. Zwar dienen die europarechtlichen Bestimmungen zumindest auch der Um-
setzung völkerrechtlicher Vorgaben zur Drogenbekämpfung. So verpflichtet etwa Art. 71
Abs. 1 SDÜ 1985 die Vertragsparteien hinsichtlich der Abgabe von Cannabis „unter Be-
rücksichtigung der bestehenden Abkommen der Vereinten Nationen“ alle notwendigen
Maßnahmen zur Unterbindung des unerlaubten Handels zu treffen. Schon Art. 71 Abs. 2
SDÜ 1985, der zur Unterbindung der Ausfuhr, des Verkaufs, der Verschaffung und der
Abgabe von Cannabis verpflichtet, verzichtet aber auf eine Inbezugnahme des Völker-
vertragsrechts. Gleiches gilt für die nachfolgenden Absätze des Art. 71 SDÜ 1985. Der
für die Frage der Cannabis-Kriminalisierung wichtigere EU-Rahmenbeschluss zum Dro-
genhandel von 2004 verzichtet jenseits der Drogendefinitionen ganz auf eine Inbezug-
nahme der völkervertragsrechtlichen Bestimmungen. Schon der Textbefund spricht dem-
nach klar gegen die These eines impliziten allgemeinen Vorbehalts zugunsten der natio-
nalen Verfassungsordnungen in den europarechtlichen Bestimmungen zur Drogenbe-
41
kämpfung.
Gegen die Annahme eines allgemeinen, von den EU-Mitgliedstaaten selbst geltend zu
machenden Verfassungsvorbehalts in den europarechtlichen Bestimmungen zur Drogen-
bekämpfung sprechen aber auch ganz grundlegende, prinzipielle europarechtliche
Gründe. Anders als das Völkerrecht begründet das Europarecht nämlich seinerseits eine
eigene Verfassungsrechtsordnung, die ihrerseits mit der Charta der Grundrechte der Eu-
ropäischen Union einen eigenen Grundrechtsraum und mit dem Europäischen Gerichts-
hof eine eigene oberste Grundrechtsschutzinstanz etabliert. Weil und soweit die Europä-
ische Union ihrerseits selbst Vertragspartei des UN-Übereinkommens gegen den illegalen
Drogenhandel ist, könnte deshalb allein die Union als solche sich auf einen potentiellen
Verfassungsvorbehalt gegenüber den von ihr eingegangenen völkerrechtlichen Drogen-
bekämpfungspflichten berufen. Völlig zu Recht ist deshalb in der Literatur darauf hinge-
wiesen worden, dass sich ein europarechtlich relevanter Verfassungseinwand gegenüber
den völkerrechtlichen Drogenbekämpfungspflichten allein aus einer entsprechenden
89
Ambos, Nochmals: Cannabis-Entkriminalisierung und Europarecht, VerfBlog, 25.7.2022,
https://verfas-
sungsblog.de/nochmals-cannabis-entkriminalisierung-und-europarecht/, a.E.
______________________________________________________________________
link to page 26
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Grundrechtsjudikatur des EuGH ergeben könne.90 Mit anderen Worten: weil und soweit
die europäische Union völkerrechtliche Verpflichtungen zur Drogenbekämpfung über-
nommen hat, obliegt es allein der Union und damit letztlich dem EuGH, über die Verfas-
sungs- und Grundrechtskonformität dieser Verpflichtungen abschließend zu entscheiden.
Auch die Frage nach dem völkerrechtlichen „Verfassungsvorbehalt“ ist insoweit europä-
isiert.
Nur diese letztgenannte Lesart entspricht – darauf hat im hier interessierenden Zusam-
menhang
Thym aufmerksam gemacht91 – der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH
zur Geltendmachung völkerrechtlicher Vorbehalte in „gemischten“, also sowohl von der
Europäischen Union wie auch von ihren Mitgliedstaaten unterzeichneten, völkerrechtli-
chen Abkommen. So hat der EuGH erst unlängst einen Versuch Irlands, einen völker-
rechtlichen Vorbehalt im Bereich des internationalen Urheberrechts im nationalen Allein-
gang geltend zu machen, als europarechtswidrig zurückgewiesen. Weil und soweit auch
die Union Vertragspartei des entsprechenden völkerrechtlichen Abkommens sei, sei es
allein Sache der EU, über die Geltendmachung solcher Vorbehalte gegenüber Drittstaaten
zu entscheiden.92
42
Die Europäisierung der Drogenbekämpfung erlaubt demnach – soweit sie inhaltlich
reicht93 – zugleich keine isolierte Geltendmachung nationaler Verfassungsvorbehalte.
Nur ein solches Verständnis entspricht schließlich dem Sinn und Zweck der gemeinsamen
und vorrangigen europarechtlichen Bestimmungen zur Drogenbekämpfung. Diese sollen
eine gemeinsame und jedenfalls weitgehend einheitliche Drogenbekämpfungspolitik ver-
bürgen um damit den übergeordneten Zielen eines von Grenzkontrollen freien Raums und
des gemeinsamen Binnenmarktes zu dienen.
Bezüglich der Frage nach der potentiellen Entwicklung und Geltendmachung eines ge-
meinsamen europäischen Verfassungsvorhalts gegenüber den völkerrechtlichen Drogen-
bekämpfungspflichten der Union käme es deshalb allein auf mögliche künftige Entschei-
dungen des Europäischen Gerichtshofs an. Deren Entwicklung ist noch weniger sicher
prognostizierbar, als die künftige Entwicklung der einschlägigen Rechtsprechung des
90
Thym, Ein Weg zur Cannabis-Legalisierung führt über Luxemburg, VerfBlog, 29.8.2022,
https://verfas-
sungsblog.de/ein-weg-zur-cannabis-legalisierung-fuhrt-uber-luxemburg/. 91
Thym, Ein Weg zur Cannabis-Legalisierung führt über Luxemburg, VerfBlog, 29.8.2022,
https://verfas-
sungsblog.de/ein-weg-zur-cannabis-legalisierung-fuhrt-uber-luxemburg/. 92 EuGH, Rs. C-265/19, Urt. v. 8.9.2020, Recorded Artists, Rn. 87 ff.
93 Näher zu den Grenzen der europarechtlichen Pflicht zur Cannabis-Kriminalisierung o
. VI. ______________________________________________________________________
link to page 38
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Bundesverfassungsgerichts.94 Einschlägige Entscheidungen des EuGH zur verfassungs-
rechtlichen Zulässigkeit einer Cannabis-Kriminalisierung fehlen bislang weitgehend.
Hinzuweisen ist insoweit allerdings auf die Entscheidung Josemans gegen Burgemeester
van Maastricht von 2010, in der der EuGH Cannabis unter Hinweis auf die entsprechen-
den völker- und europarechtlichen Bestimmungen als illegale Ware eingestuft hat, ohne
dabei diese Illegalität unter Hinweis auf vermeintlich entgegenstehende Grundrechte in
Frage zu stellen.95
Hinzuweisen ist auch auf die jüngere EuGH-Entscheidung zum freien Warenverkehr mit
rechtmäßig hergestelltem Cannabidiol (CBD).96 Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof
ein französisches Verbot der Vermarktung von CBD als unvereinbar mit der Warenver-
kehrsfreiheit bezeichnet.
Der Gerichtshof hat dabei im Ausgangspunkt seine eben referierte „Josemans“-Recht-
sprechung bestätigt, wonach die Warenverkehrsfreiheit auf illegale Drogen wie Cannabis
keine Anwendung finde. Die „Schädlichkeit von Suchtstoffen, einschließlich derjenigen
auf Hanfbasis,“ sei „allgemein anerkannt“ und ihr Inverkehrbringen in allen Mitglied-
staaten verboten. Lediglich ein streng überwachter Handel, der der Verwendung für me-
43
dizinische und wissenschaftliche Zwecke diene, sei davon ausgenommen.97 Hervorzuhe-
ben ist dabei, dass der Gerichtshof zur Begründung des Cannabis-Verbots ausdrücklich
auf die entsprechenden Bestimmungen des Unionsrechts und auf die Unterzeichnung des
IT 1988 gerade durch die Union abstellt.
CBD sei aber faktisch und rechtlich nicht als „Cannabis“ im Sinne dieser Bestimmungen
und damit nicht als illegale Droge zu begreifen. Das Unionsrecht verweise für die Dro-
gendefinition insbesondere auf das UN-Übereinkommen über psychotrope Stoffe und das
Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe. CBD werde im erstgenannten Übereinkom-
men nicht erwähnt, und eine wörtliche Auslegung des Einheits-Übereinkommens könnte
zwar dazu führen, es – als Cannabisextrakt – als Suchtstoff einzustufen. Eine solche Aus-
legung widerspräche jedoch dem Grundgedanken dieses Übereinkommens und seinem
94 Vgl. dazu bereits o.
VII.B.3.b). 95 EuGH, Rs. C-137/09, Urt. v. 16.12.2010 – Josemans gegen Burgemeester van Maastricht; ebenso in der
Illegalitätseinstufung bereits: EuGH, Rs. 289/86, Urt. v. 5.7.1988 – Happy Family und EuGH, Rs. 294/82,
Urt. v. 28.2.1984 – Einberger II.
96 EuGH, Rs. C-663/18, Urt. v. 19.11.2020 – CBD.
97 EuGH, Rs. C-663/18, Urt. v. 19.11.2020 – CBD, Rn. 59.
______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Ziel, „die Gesundheit und das Wohl der Menschheit“ zu schützen.98 Nach dem gegen-
wärtigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, der zu berücksichtigen sei, habe das
in Rede stehende CBD, anders als Tetrahydrocannabinol (THC), offenbar keine psycho-
tropen Wirkungen oder schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit.
Zumindest in seiner bisherigen Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof dem-
nach keinerlei Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des grundsätzlichen
Cannabis-Verbots erkennen lassen. Auch wenn ein Wandel dieser Rechtsprechung nicht
grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, so dürfte auch hier – wie schon hinsichtlich
der parallelen Frage nach einem Wandel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts – mit Rücksicht auf den Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetz-
gebers kaum eine Entwicklung hin zu einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Le-
galisierung nicht nur des privaten Cannabis-Konsums, sondern weitergehend auch eines
staatlichen Cannabis-Angebots zu erwarten sein.
C.
Europarechtliche Rechtfertigung durch gesetzliche Erlaubnis?
Nicht zielführend erscheint vor diesem Hintergrund auch ein weiterer interpretatorischer
Ansatz, der auf eine Relativierung spezifisch der europarechtlichen Verpflichtungen zur
44
Kriminalisierung des Cannabis-Angebots abzielt.
Soweit erkennbar, stammt die entsprechende Überlegung ursprünglich aus der Begrün-
dung zu dem bereits erwähnten und vom Bundestag abgelehnten Entwurf für ein Can-
nabiskontrollgesetz, das auf eine den Eckpunkten der Bundesregierung weitgehend ent-
sprechende Cannabis-Legalisierung abzielte. Zur Relativierung der aus dem Unionsrecht
folgenden Kriminalisierungsverpflichtungen verwies dieser Gesetzentwurf insbesondere
auf die in Art. 2 RB 2004 enthaltene Formulierung, wonach die Drogenproduktion und
der Drogenhandel von den Mitgliedsstaaten dann unter Strafe zu stellen sind, „wenn sie
98 Zwischenzeitlich hat allerdings das INCB in seinem jüngsten Jahresbericht darauf hingewiesen, dass die
von der WHO angeregte ausdrückliche Ausklammerung von CBD aus der „Cannabis“-Definition in An-
hang I SC 1961 auf der 63. CND-Sitzung im Dezember 2020 keine Mehrheit gefunden hat, vgl. INCB-
Jahresbericht
2021,
Rn. 800,
812,
https://www.incb.org/documents/Publications/AnnualRe-
ports/AR2021/Annual_Report/E_INCB_2021_1_eng.pdf. In einem Strafverfahren zum Handel mit CBD-
Blüten hat der BGH eine strafrechtliche Verurteilung auch unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtspre-
chung für zulässig angesehen, weil im konkreten Fall eine einfache Anreicherung des in den CBD-Blüten
enthaltenen THC-Gehalts durch den Endverbraucher möglich und intendiert war, vgl. BGH, Beschl. v.
23.6.2022 – 5 StR 490/21, Rn. 9 ff.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
ohne entsprechende Berechtigung [engl.: „without right“, Anm. des Verf.] vorgenommen
wurden“.99
Nach der Argumentation des Gesetzentwurfs stehen diese Bestimmungen einer umfas-
senden Drogenlegalisierung durch einen Mitgliedstaat deshalb überhaupt nicht im Wege.
Es bedürfe lediglich einer entsprechenden innerstaatlichen Gesetzgebung, die eben diese
Berechtigung schaffe. In dieser Logik stünden die europarechtlichen Verpflichtungen zur
Drogenprohibition vollständig im regulatorischen Ermessen des jeweiligen mitgliedstaat-
lichen Gesetzgebers.
Zu Recht hat diese These in der einschlägigen juristischen Literatur zum Thema jedenfalls
in ihrer schlichten Entschiedenheit (fast) keine Anhänger gefunden.100
Sie steht zunächst in einem erkennbaren Spannungsverhältnis zu der von Seiten der Le-
galisierungsbefürworter mit Blick auf den völkervertragsrechtlichen Verfassungsvorbe-
halt vertretenen These, das Europarecht sei lediglich um einen Nachvollzug der völker-
vertragsrechtlichen Vorgaben bemüht und deshalb akzessorisch zu verstehen und auszu-
legen.101 Gerade wegen des Konnexes zwischen Unions- und UN-Recht102 ist davon aus-
zugehen, dass die Formulierung „ohne Berechtigung/without right“ sich auf diejenigen
45
Berechtigungen bezieht, die auch nach dem UN-Recht einen Umgang mit Drogen legiti-
mieren können. Zu diesen Berechtigungen zählt das UN-Recht nach den obigen Ausfüh-
rungen aber allein solche, die von den Vertragsstaaten zu medizinischen und wissen-
schaftlichen Zwecken erteilt werden können. Dazu ist ergänzend darauf hinzuweisen,
dass – wie oben bereits erwähnt103 – auch das Einheits-Übereinkommen in Art. 33
SC 1961 eine Klausel kennt, wonach die Vertragsparteien keinen Besitz von Suchtstoffen
„ohne gesetzliche Ermächtigung“ (engl. „except und legal authority“) gestatten. Vor dem
99 Entwurf eines Cannabiskontrollgesetzes, BT-Drs. 18/4204 v. 4.3.2015, S. 45. Vgl. zu diesem Entwurf
bereits o.
IV.C. 100 Vage in diese Richtung aber die Andeutungen bei
Lutzhöft/Hendel, Legalisierung impossible? EU- und
völkerrechtskonforme Optionen für eine Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland,
2022,
https://www.twobirds.com/de/insights/2022/germany/legalisierung-impossible-eu-und-voelker-
rechtskonforme-optionen-fuer-eine-legalisierung-von-cannabis.
Deutlicher:
Lichtenthä-
ler/Oğlakcıoğlu/Sobota, „Wenn die Ampel auf Grün schaltet...“: Neuralgische Punkte einer Cannabisfrei-
gabe, NK 2022, 228 (234 f.), die allerdings selber einräumen, dass „solch eine Auslegung gerade vor dem
Hintergrund der Genese des Rahmenbeschlusses nicht jeden überzeugen“ mag.
101 Vgl. dazu bereits o.
VII.B.4. 102 Eingehender zu der erkennbaren Absicht des EU-Normsetzers zu Umsetzung der Vorgaben des UN-
Rechts:
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung der „ohne entsprechende
Berechtigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2004/757/JI über illegalen Dro-
genhandel, 2023 (i.E.).
103 Vgl. dazu bereits o.
V.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Hintergrund der klaren Prohibitionsabsichten und der eindeutigen Kriminalisierungsvor-
gaben des Völkervertragsrechts ist diese Klausel aber soweit ersichtlich weder von den
UN-Drogenkontrollorganen noch von den Vertragsparteien zu irgendeinem Zeitpunkt als
eine über die Legalisierung des wissenschaftlichen und/oder medizinischen Gebrauchs
hinausgehende Option zur generellen Legalisierung des Drogenkonsums verstanden wor-
den. Auch in der Literatur finden sich hierzu lediglich verneinende Stellungnahmen.104
Gegen ein Verständnis der „ohne Berechtigung/without right“-Klausel im Sinne einer
umfassenden und voraussetzungslosen „Opt-out“-Option der einzelnen EU-Mitgliedstaa-
ten spricht auch der Sinn und Zweck der Regelungen des SDÜ 1985 und des RB 2004.
So zielt etwa der RB 2004 schon ausweislich seines Titels auf die „Festlegung von Min-
destvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im
Bereich des illegalen Drogenhandels“ ab. Mindestvorschriften würden aber überhaupt
nicht mehr bestehen, bliebe die Entscheidung über die Kriminalisierung der Drogenpro-
duktion und des Drogenhandels der willkürlichen Entscheidung der einzelnen Mitglied-
staaten überlassen. Mit der Anerkennung einer pauschalen „Opt-out“-Option würden
schließlich die expliziten gesundheits- und kriminalpolitischen Zielsetzungen verfehlt,
die der EU-Gesetzgeber mit dem EU-Drogenbekämpfungsrecht verbunden hat.105
46
Dass die „ohne Berechtigung/without right“-Klausel nicht als umfassende „Opt-out“-
Klausel und mitgliedstaatliche „carte blanche“ verstanden werden kann, zeigt schließlich
der Vergleich mit entsprechenden Bestimmungen anderer EU-Rechtsakte. So verpflichtet
etwa auch die Richtlinie 2011/93/EU über Kinderpornografie die Mitgliedstaaten, vor-
sätzliche Handlungen im Zusammenhang mit Kinderpornografie unter Strafe zu stellen,
wenn sie „without right“ begangen werden. Auch hier erlaubt aber die „without right“-
104 Siehe etwa
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung der „ohne entspre-
chende Berechtigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2004/757/JI über illegalen
Drogenhandel, 2023 (i.E.);
dies., International Law and Cannabis I: Regulation of Cannabis Cultivation for
Recreational Use under the UN Narcotic Drugs Conventions and the EU Legal Instruments in Anti-Drugs
Policy,
2019,
S. 133 ff.,
https://www.cambridge.org/core/books/international-law-and-cannabis-
i/F0D2A2A07FC311DAB48499DA9DCC8125.
105 Näher zu diesen Zielsetzungen und zur historischen Interpretation der „ohne Berechtigung“-Klausel:
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung der „ohne entsprechende Berech-
tigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2004/757/JI über illegalen Drogenhan-
del, 2023 (i.E.).
______________________________________________________________________
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Klausel den Mitgliedstaaten selbstverständlich keine pauschale Entkriminalisierung der
Kinderpornografie durch innerstaatliche gesetzgeberische Entscheidung.106
Die „ohne Berechtigung/without right“-Klausel kann deshalb nur so verstanden werden,
dass sie im Sinne des UN-Rechts den Mitgliedstaaten eine Gestattung des medizinischen
und wissenschaftlichen Drogengebrauchs gestattet. Eine weitergehende Bedeutung
kommt ihr nicht zu.107
D.
Cannabis-Produktion und -Handel als Element der Drogenbekämp-
fung?
Noch weiter gehen allerdings die bereits oben referierten108 Vorstellungen der Bundesre-
gierung, nach denen die staatliche Erlaubnis zur einer Cannabis-Produktion und zu dessen
Vermarktung als ein Baustein einer Drogenbekämpfungspolitik zu verstehen und so auch
völker- und europarechtlich zu rechtfertigen sei. Die Bundesregierung beabsichtigt aus-
weislich des von ihr veröffentlichten Eckpunktepapiers insoweit eine entsprechende „In-
terpretationserklärung“ abzugeben, die die Vereinbarkeit der „Umsetzung des Koalitions-
vertrages – unter bestimmten engen Voraussetzungen staatlicher Reglementierung und
Verbesserung der Standards in den Bereichen Gesundheits- und Jugendschutz sowie Be-
47
106 Im Gegenteil bestimmt Erwägungsgrund 17 Richtlinie 2011/93/EU, dass die Formulierung „without
right“ im Zusammenhang mit Kinderpornografie den Mitgliedstaaten lediglich gestattet, „eine Rechtferti-
gung für Handlungen im Zusammenhang mit ‚pornografischem Material’ vorzusehen, die beispielsweise
einem medizinischen, wissenschaftlichen oder ähnlichen Zweck dienen. Außerdem erlaubt er Handlungen
im Rahmen von nationalen rechtlichen Befugnissen, wie den legitimen Besitz von Kinderpornografie durch
die Behörden, um Strafverfahren durchzuführen oder Straftaten zu verhindern, aufzudecken oder zu unter-
suchen. Er schließt außerdem keine Rechtfertigungen oder entsprechende relevante Prinzipien aus, die eine
Person unter bestimmten Umständen von der Verantwortung ausnehmen, beispielsweise wenn Telefon-
oder Internet-Hotlines aktiv sind, um diese Fälle zu melden.“ Ich verdanke den entsprechenden Hinweis
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung der „ohne entsprechende Berech-
tigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2004/757/JI über illegalen Drogenhan-
del, 2023 (i.E.).
107 Dies ist – trotz erkennbar anderer Auslegungsabsicht – im Ergebnis auch das praktische Ergebnis der
eingehenden Untersuchung von
van Kempen/Federova, Die Regulierung von Cannabis unter Anwendung
der „ohne entsprechende Berechtigung“-Klausel in Artikel 2 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses
2004/757/JI über illegalen Drogenhandel, 2023 (i.E.). Zwar halten diese Autoren ein weiteres Verständnis
der Klausel grundsätzlich für möglich. Dieses setze aber zum einen eine vorherige Auflösung der völker-
rechtlichen Bindungen wenigstens des jeweiligen Vertragsstaates und zum anderen eine Sicherstellung der
Nichtbeeinträchtigung der grundsätzlich prohibitiven EU-Regelungsziele und der Drogenbekämpfung be-
nachbarter EU-Mitgliedstaaten voraus. Dass diese kumulativen Voraussetzungen im Rahmen der von der
Bundesregierung geplanten Cannabis-Legalisierung erreicht werden könnten, erscheint auf absehbare Zeit
praktisch ausgeschlossen.
108 Vgl. dazu o.
IV.A und
IV.C. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
kämpfung des illegalen Drogenhandels – als mit dem Zweck und den rechtlichen Vorga-
ben der Übereinkommen vereinbar erklärt“.109 In ihrer Erläuterungen zu diesem Vorge-
hen rekurriert die Bundesregierung auf die von Deutschland bereits anlässlich der Ratifi-
zierung des IT 1988 abgegebene Interpretationserklärung zu Art. 3 Abs. 2 IT 1988.
Die rechtliche Bedeutung der über Art. 3 Abs. 2 IT 1988 allenfalls erreichbaren Relati-
vierungen der völkerrechtlichen Drogenbekämpfungsverpflichtungen wird mit diesem
Rechtfertigungsansatz aber eindeutig überdehnt.110 Dazu ist zunächst darauf hinzuwei-
sen, dass die Ausnahmevorschrift des Art. 3 Abs. 2 IT 1988, anders als von der Bundes-
regierung unterstellt, keine interpretatorische Umkehrung des Drogen-Prohibitionsansat-
zes des UN-Rechts erlaubt. Die von der Bundesregierung geplante umfassende Legalisie-
rung der kommerziellen Cannabis-Produktion und des Cannabis-Vertriebs kann eben
nicht in eine Prohibitionspolitik mit anderen Mitteln umgedeutet werden.
Zu Recht ist insoweit in der Literatur auch auf die Widersprüchlichkeit der gegenteiligen
völkerrechtlichen Einschätzung der Bundesregierung hingewiesen worden. Diese geht
nämlich ausweislich ihres Eckpunktepapiers selbst davon aus, dass jedenfalls „nach vor-
läufiger Einschätzung“ ein „internationaler Handel von Cannabis zu Genusszwecken auf
48
Basis bzw. im Einklang mit bestehenden internationalen Rahmenbedingungen nicht mög-
lich“ sei. Das internationale Recht ermögliche „lediglich einen Handel von Drogen zu
medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken und dies auch nur unter strengen Vo-
raussetzungen“. Die Bundesregierung hält deshalb selbst einen internationalen Handel
109 Eckpunktepapier der Bundesregierung, 2022, S. 3,
https://www.bundesgesundheitsministe-
rium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunk-
tepapier_Abgabe_Cannabis.pdf. In eine ähnliche Richtung argumentieren für das Unionsrecht
Lutz-
höft/Hendel, Legalisierung impossible? EU- und völkerrechtskonforme Optionen für eine Legalisierung
von Cannabis zu Genusszwecken in Deutschland, 2022,
https://www.twobirds.com/de/insights/2022/ger-
many/legalisierung-impossible-eu-und-voelkerrechtskonforme-optionen-fuer-eine-legalisierung-von-can-
nabis, wonach die Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien zum Schengener Durchführungsüberein-
kommen, die Abweichungen von den Cannabis-Verboten auf nationaler Ebene „zur Vorbeugung und Be-
handlung der Abhängigkeit von Suchtstoffen“ für möglich erkläre, dafür spreche, dass die Einführung eines
kontrollierten Cannabis-Marktes zulässig sei, soweit die Maßnahme der staatlichen Drogenkontrollpolitik
diene. Auch diese Autoren erklären diesen Ansatz in der Folge aber für rechtlich nicht hinreichend belast-
bar.
110 Ebenso:
Jelsma, German cannabis regulation on thin ice – The government’s risky approach to interna-
tional legal obstacles puts the entire project in jeopardy, 2022,
https://www.tni.org/en/article/german-can-
nabis-regulation-on-thin-ice: “can be easily contested and dismissed on legal grounds”.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
und damit einen Import von Cannabis nach Deutschland für völker- (und unions-)rechts-
widrig.111 Das UN-Drogenbekämpfungsrecht verlangt aber – anders als hier implizit un-
terstellt wird – nicht allein eine Kriminalisierung des grenzüberschreitenden Handels,
sondern zugleich eine Kriminalisierung jeden nicht wissenschaftlichen oder medizini-
schen Zwecken im oben beschriebenen engen Sinne dienenden Anbaus und Handels.112
Wie oben bereits eingehend beschrieben,113 eröffnet Art. 3 Abs. 2 IT 1988 allein die
Möglichkeit einer Relativierung der Kriminalisierungsverpflichtungen hinsichtlich des
persönlichen Drogen-Verbrauchs. Die Bestimmungen des UN-Drogenbekämpfungs-
rechts unterscheiden insoweit – ebenso wie das einschlägige EU-Recht – eindeutig zwi-
schen einer unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen möglichen Ent-
kriminalisierung der an sich zu verbietenden Tathandlungen der Drogenkonsumenten ei-
nerseits und einer unter allen Umständen unter Strafe zu stellenden überindividuellen und
kommerziellen Drogenproduktion und dem Drogenangebot.
Schon die innerstaatliche und europäische verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Ent-
kriminalisierung des individuellen Drogenkonsums erscheint vor diesem völkerrechtli-
chen Hintergrund nach den obigen Ausführungen114 derzeit nicht gegeben und auch in
49
ihrer Entwicklung überaus anspruchsvoll. Schon sie kann allein durch eine einseitige In-
terpretationserklärung der deutschen Bundesregierung nicht erreicht werden. Jedenfalls
aber ist mit einer solchen Erklärung eine grundsätzliche Abkehr von dem mit dem UN-
Recht verfolgten Drogenbekämpfungsansatzes nicht zu rechtfertigen.
111 Eckpunktepapier der Bundesregierung, 2022, S. 11,
https://www.bundesgesundheitsministe-
rium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/C/Kabinettvorlage_Eckpunk-
tepapier_Abgabe_Cannabis.pdf. 112 Eingehend kritisch dazu:
Jelsma, German cannabis regulation on thin ice – The government’s risky
approach
to
international
legal
obstacles
puts
the
entire
project
in
jeopardy,
2022,
https://www.tni.org/en/article/german-cannabis-regulation-on-thin-ice: “The treaties, however, impose ex-
actly the same restriction on domestic production and internal trade. International trade is not more prohib-
ited than a closed national market for recreational purposes”.
113 Vgl. dazu o.
V.C und
VII.B.2. 114 Vgl. dazu bereits o.
VII.B.3 und
VII.B.4. ______________________________________________________________________
Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
VIII. Rechtsschutzmöglichkeiten der Bayerischen Landesregie-
rung
Die Möglichkeiten der Bayerischen Landesregierung, Rechtsschutz gegen eine völker-
und europarechtswidrige Cannabis-Legalisierung durch Bundesgesetz zu erlangen, sind
innerstaatlich begrenzt. Eine höchstrichterliche Klärung lässt sich aber wenigstens mit-
telbar durch den Europäischen Gerichtshof erreichen.
A.
Verfahren der abstrakten Normenkontrolle
Gängiges verfassungsgerichtliches Verfahren zur Klärung von Meinungsverschiedenhei-
ten hinsichtlich der Verfassungskonformität von Bundesgesetzen ist das der abstrakten
Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG.
Entsprechende Normenkontrollanträge können von einer Landesregierung oder einem
Viertel der Mitglieder des Bundestages gestellt werden.
1.
Prüfungsmaßstab Europarecht?
Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle ist nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts allerdings lediglich die Vereinbarkeit der Bestimmungen des be-
50
troffenen Bundesgesetzes mit dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat den
Begriff des Grundgesetzes dabei in der Vergangenheit ausdrücklich betont eng ausgelegt.
Es hat deshalb die Rüge, die Bestimmung eines Bundesgesetzes verstoße gegen Vor-
schriften des Unionsrechts, für unzulässig angesehen. Prüfungsmaßstab sei allein die Ver-
einbarkeit mit dem Grundgesetz, nicht aber die mit dem Recht der Europäischen Union.115
An dieser restriktiven Interpretation soll auch die Berufung auf Art. 23 Abs. 1 GG und
damit auf die verfassungsrechtliche Verpflichtung Deutschlands zur Mitwirkung bei der
Entwicklung der Europäischen Union nichts ändern. Zwar handele es sich bei Art. 23
Abs. 1 GG um eine Norm des Grundgesetzes, die im Normenkontrollverfahren Prüfungs-
maßstab sein könne. Allein aus dem möglichen Verstoß einer bundesrechtlichen Norm
gegen unionsrechtliche Vorgaben soll sich eine auch verfassungsprozessual relevante
Verletzung des Art. 23 Abs. 1 GG aber noch nicht ergeben können.
Dies folgt nach Ansicht des Gerichts auch daraus, dass ein möglicher Verstoß gegen Uni-
onsrecht die Gültigkeit einer innerstaatlichen Norm für sich genommen nicht in Frage
115 BVerfG, Beschluss v. 1.4.2014, 2 BvF 1, 3/12 (Gigaliner) Rn. 43.
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
stelle.116 Dieser Argumentation liegt die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs entstammende Unterscheidung von Geltungs- und Anwendungsvorrang zugrunde,
wonach der Verstoß einer nationalen Norm gegen das Unionsrecht diese Norm nicht un-
gültig macht, sondern lediglich deren Unanwendbarkeit erzwingt.
Für die Prüfung, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer Bestim-
mung des Unionsrechts unvereinbar ist, ist das Bundesverfassungsgericht nach eigener
Auffassung daher nicht zuständig.117 Dieser Prüfungsmaßstab werde weder durch Art. 23
Abs. 1 GG und die darin zum Ausdruck gebrachte Europarechtsfreundlichkeit des Grund-
gesetzes erweitert118 noch für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle dadurch mo-
difiziert, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren ohne Zusammenhang
mit einem Verfahren vor den Fachgerichten entscheide, in dem eine Vorlage an den Eu-
ropäischen Gerichtshof gegebenenfalls erfolgen könnte und müsste.119
Ungeachtet dieser noch vergleichsweise jungen und inhaltlich eindeutigen Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts erscheint eine Änderung dieser Rechtsprechung zur Un-
zulässigkeit der Geltendmachung der Europarechtswidrigkeit von Bundesgesetzes im
Verfahren der abstrakten Normenkontrolle allerdings nicht vollkommen ausgeschlossen.
51
Anlass dafür könnte die jüngere Rechtsprechung des Gerichts zur Zulässigkeit der Gel-
tendmachung der Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta in der Verfassungs-
beschwerde sein. Mit dieser neuen Rechtsprechungslinie („Recht auf Vergessen I/II“)120
hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die bislang gegenläufige Rechtspre-
chung des Gerichts aufgegeben; der Zweite Senat ist dem zwischenzeitlich gefolgt. Auf-
gegeben ist damit vor allem die „Trennungsthese“, nach der die europarechtlichen Zu-
ständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs einerseits und die verfassungsrechtlichen
Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts andererseits klar zu trennen seien. Nach
der neuen Rechtsprechungslinie überwacht nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht
116 BVerfG, Beschluss v. 1.4.2014, 2 BvF 1, 3/12 (Gigaliner) Rn. 43; unter Hinweis auf BVerfGE 126, 286
(301 f.).
117 BVerfG, Beschluss v. 1.4.2014, 2 BvF 1, 3/12 (Gigaliner) Rn. 43; unter Hinweis auf BVerfGE 31, 145
(174 f.); 82, 159 (191); 110, 141 (155); 114, 196 (220); BVerfG, Urt. v. 28.1.2014, 2 BvR 1561/12 u.a.
118 BVerfG, Beschluss v. 1.4.2014, 2 BvF 1, 3/12 (Gigaliner) Rn. 43; unter Hinweis auf BVerfGE 110, 141
(155);
Kaiser/Schübel-Pfister, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 545 (568 f.).
119 BVerfG, Beschluss v. 1.4.2014, 2 BvF 1, 3/12 (Gigaliner) Rn. 43; unter Hinweis auf BVerfGE 114, 196
(220).
120 BVerfG, Beschlüsse v. 6.11.2019, 1 BvR 16/13 (Recht auf Vergessen I); 1 BvR 276/17 (Recht auf
Vergessen II).
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
die Einhaltung der Unionsgrundrechte in Kooperation mit dem Europäischen Gerichts-
hof. Damit sind zumindest die Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta aus-
drücklich zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der Ver-
fassungsbeschwerde avanciert.
Eine Übertragung dieses Grundansatzes auf das Verfahren der abstrakten Normenkon-
trolle121 und auf die Geltendmachung nicht nur der Grundrechte der Grundrechtecharta,
sondern auch der sonstigen Bestimmungen des Unionsrechts erscheint immerhin denkbar
und läge in der Konsequenz der skizzierten jüngeren Rechtsprechungsentwicklung. Sie
setzte damit aber eine gleich zweifache Weiterentwicklung voraus und erscheint deshalb
derzeit eher unwahrscheinlich.
2.
Prüfungsmaßstab Völkerrecht?
Wenig aussichtsreich erschiene dagegen die isolierte Geltendmachung des in der geplan-
ten Cannabis-Legalisierung liegenden Völkerrechtsverstoßes im Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt völkerrechtlichen Ver-
trägen nämlich – soweit sie nicht in die in den Art. 23-25 GG genannten Sonderbereiche
52
fallen – innerstaatlich lediglich der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu. Ihnen ge-
genüber soll der lex-posterior-Grundsatz uneingeschränkt gelten. Weder unter Rückgriff
auf den ungeschriebenen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
noch aus dem Rechtsstaatsprinzip soll sich eine Verfassungswidrigkeit völkerrechtswid-
riger Gesetze bzw. ein Vorrang des Völkervertragsrechts vor dem Gesetz oder eine Ein-
schränkung des lex-posterior-Grundsatzes ableiten lassen.122
B.
Klärung durch den Europäischen Gerichtshof
Mittelbar könnte Bayern allerdings für eine höchstrichterliche Klärung der europa- und
völkerrechtlichen Unvereinbarkeit der geplanten Cannabis-Legalisierung durch den Eu-
ropäischen Gerichtshof sorgen. Zwar fehlt den Bundesländern die Klagebefugnis, um
etwa ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258, 259 AEUV anzustrengen.
121 Ablehnend insoweit:
Klein, Kompetenzielle Würdigung und verfassungsprozessuale Konsequenzen der
„Recht auf Vergessen“-Entscheidungen, DÖV 2020, 341 (346 f.), der eine entsprechende Fortentwicklung
aber ausdrücklich nicht für ausgeschlossen hält. Ihm folgend:
Classen, Über das Ziel hinausgeschossen?
Anmerkung zu den zwei Beschlüssen des BVerfG zum Recht auf Vergessen vom 6.11.2019, 1 BvR 16/13,
276/17, EuR 2021, 92 (98).
122 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12 (Treaty Override).
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Bernhard W. Wegener: Völker- und europarechtliche Grenzen einer Cannabis -Legalisierung
Weil und soweit eine umfassende Legalisierung auch der kommerziellen Produktion und
des Handels mit Cannabis gegen Europarecht verstößt, wären bayerische Staatsbehörden
aber mit Rücksicht auf den von ihnen unmittelbar zu beachtenden Vorrang des Unions-
rechts verpflichtet, sich der Mitwirkung an dem Aufbau unionsrechtswidriger Strukturen
eines solchen Produktions- und Handelssystems zu enthalten. Bayerische Behörden
müssten deshalb beispielsweise die in einem künftigen Cannabis-Legalisierungsgesetz
des Bundes enthaltenen Vorgaben zur Genehmigung von Produktionsstandorten und von
Verkaufsstellen unter Hinweis auf das entgegenstehende vorrangige Recht der Europäi-
schen Union außer Anwendung lassen.
Sollte gegen diese Genehmigungsverweigerungen Klage erhoben werden – wovon mit
großer Sicherheit auszugehen ist – so könnten die mit den entsprechenden Klagen befass-
ten deutschen Gerichte die bei ihnen anhängigen Verfahren aussetzen und den Europäi-
schen Gerichtshof im Wege der Vorabbefassung nach Art. 267 AEUV um eine Entschei-
dung zur Vereinbarkeit des kommerziellen Cannabis-Anbaus und Cannabis-Handels mit
dem Unionsrecht ersuchen. Eine diese Vereinbarkeit verneinende Entscheidung des Eu-
ropäischen Gerichtshofs wäre für alle deutschen Behörden verbindlich.123
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123 Zur Wirkung und Verbindlichkeit der Urteile des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren:
Wegener, in:
Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 62022, Art. 267, Rn. 49 ff.
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